Der Totenwächter - Roman (German Edition)
hübsches Mädchen mit dunklen Augen und langen schwarzen Haaren. Vor fünf Jahren war ihr Vater, Bernard Wayne, bei einem Unfall umgekommen. Es hatte lange gedauert, bis das Kind den Tod ihres Vaters verkraftete.
Linda, die ihre Tochter über alles liebte, war eine Frau, die nicht aufgab. Sie hatte schlimme und einsame Zeiten durchlebt. Viele Nächte hatte sie um ihren Mann geweint. Sie hatte Wochen erlebt, da meinte sie, an einem Abgrund zu stehen. Sie hatte in ein schwarzes Nichts gestarrt und darauf gewartet, dass Bernard hinter sie trat, seine Arme um sie legte, um sie an sich zu drücken und zu liebkosen. Sie liebte Bernard auf eine sanfte, entfernte Weise noch immer, und nicht zuletzt dies war der Grund, weshalb sie Beziehungen zu anderen Männern bisher ausgewichen war. Man fand sie attraktiv, ihr fein geschnittenes Gesicht, dominiert von großen dunklen Augen und die schulterlangen rotblonden Haare.
Bernard fehlte ihr sehr. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie ihm dieses Ägypten gefallen hätte. Zu seiner Lebenszeit waren sie ausschließlich in den USA verreist. Mal nach Miami, ein Trip nach Las Vegas, eine Canyontour, zwei unbeschwerte Wochen in Santa Monica. Es war stets ihr Traum gewesen, Europa zu besichtigen, Paris, Rom, München oder Heidelberg. Von Nordafrika hatten sie geträumt, von Griechenland und von Ägypten.
Nun war sie hier. Ohne Bernard.
Das machte die Erinnerungen intensiver, wühlte auf und förderte längst Verarbeitetes zutage. Sie hatte der Trauer um ihren Mann getrotzt und sich ihrem Beruf hingegeben, ohne ihre Tochter zu vernachlässigen. Sie war eine alleinerziehende Mutter und sie war stolz darauf. Grace war eine Musterschülerin und für ihr Alter sehr weit. Und nun durften Mutter und Tochter gemeinsam die Tage in Ägypten genießen.
Gemeinsam - aber nicht alleine.
Es war noch jemand bei ihnen.
Brad Leland. Er arbeitete als Fotograf bei US Today . Er fotografierte die Reise. Brad galt als hervorragender Landschaftsfotograf und seine Porträts fremder Kulturen hatten ihm einen guten Namen verschafft. Es hieß, Life habe ihm ein Angebot gemacht. Würde Brad nach diesem Auftrag US Today verlassen?
Zurzeit trieb Brad sich irgendwo draußen in der sengenden Sonne herum. Wahrscheinlich war Grace bei ihm. Sie himmelte den hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann an.
Vor ein paar Minuten hatte Linda die Grabkammer betreten.
Ein kühler Raum, weniger prächtig, als sie vermutet hatte. Sie hatte Angst. Denn irgendetwas stimmte nicht. Sie kniff ihre Augen zusammen und musterte die Grabbemalungen an den Wänden. Hieroglyphen, seltsame Schriftzeichen, die eine faszinierende Fremdartigkeit ausstrahlten.
Sie zuckte zusammen. Erneut hörte sie ein düsteres Murmeln, das ihr Angst eingejagte. Stimmen, die um sie herum waren wie ein milder Wind. Sie wollte von der Steinbank aufspringen und die Grabkammer verlassen. Etwas Unsichtbares hielt sie zurück. War es journalistische Neugierde?
Ein helles Licht wischte durch die Kammer. Der Fels glitzerte verführerisch, als hätte sich ein Netz funkelnder Kristalle über die Steinwände gelegt.
So wunderschön dies aussah, so unheimlich war es.
Was hier geschah, durfte nicht sein und entzog sich jeder Logik. Linda bekam eine Gänsehaut. Sie blinzelte, als könne sie den Spuk damit auflösen.
Sie war stets eine mutige Frau gewesen. Warum also sollte sie weglaufen? Immerhin war sie an einem Ort, der Tag für Tag von tausend Touristen bestaunt wurde. Hier gab es nur Stein und einen Pharaonensarg.
Nein! Hier gab es noch mehr.
Dieser Ort verwandelte sich in eine märchenhafte Stätte, die bezaubernd und Furcht einflößend gleichermaßen war. Die Stimmen hauchten in einer ihr fremden Sprache. Sie flüsterten und sprangen von Wand zu Wand wie kleine Bälle. Es war eine Mischung aus dumpfem Murmeln und raschelnden Blättern im Wind. Obwohl Linda kein Wort verstand, kam es ihr vor, als wolle sich irgendwer oder irgendetwas mit ihr in Verbindung setzen.
Das Glitzern an den Wänden verlosch wie eine Kerze, als habe man einen Knopf gedrückt, der die seltsamen Bilder ausschaltete.
Es war still.
Linda wischte sich über ihre Augen.
Es musste der abrupte Wechsel von der höllischen Hitze draußen zur angenehm trockenen Kühle hier drinnen gewesen sein. Ihre Fantasie hatte ihr etwas vorgegaukelt.
Sie stand auf. Die Decke in der Grabkammer war so niedrig, dass sie ihren Kopf sachte einziehen musste. Sie trat zwei Schritte vor.
Alles war
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