Der Totenwächter - Roman (German Edition)
und setzte sich auf einen quadratischen Stein. Sie hatte sich einen Schattenplatz gesucht. Im Tal der Könige war es drückend heiß. Viele Touristen hatten Taschentücher auf die Köpfe gelegt, um sich vor der Sonne zu schützen.
Irgendwo trieb Brad sich herum. Brad war ein gut aussehender, freundlicher Mann, der sie sehr an ihren Vater erinnerte. Wenn er lachte - und das tat er oft - verzog sich sein Gesicht in tausend kleine Falten. Vermutlich, dachte Grace, sah Brad sehr gut aus. Zumindest musste Mom so denken. Er hatte eine abenteuerliche Ausstrahlung. Besonders dann, wenn er, mit Shorts bekleidet und um den Hals seine Kameras gehängt, durch den Sand stiefelte. Er hatte tatsächliche große Ähnlichkeit mit ihrem Daddy - zumindest so, wie sie es erinnerte.
Sie wischte verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. So ging es ihr öfters, wenn sie an ihren verstorbenen Vater dachte.
Wo Mom nur blieb? Mom, die immer so tat, als könne sie die Welt aus den Angeln heben. Grace erinnerte sich an Nächte, in denen sie wach gelegen hatte und dem Schluchzen ihrer Mom gelauscht hatte. Zwischen ihrem Zimmer und dem Wohnraum war nur eine dünne Wand. Zu dünn für Geheimnisse. (Leider auch zu dünn für System of the Dawn oder Blink 128 .) Am nächsten Morgen lachte Mom dann immer, als sei nichts geschehen und blinzelte aufmunternd.
Hin und wieder hatte Grace mit sich gekämpft. Sie hatte vor Mom hintreten und sagen wollen: »Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Ich weiß, wie du dich fühlst.«
Mom hatte sich die Grabkammer anschauen wollen.
Grace war nicht mit hineingegangen. Sie hatte inzwischen zehn oder fünfzehn Grabkammern gesehen. Alle sahen gleich aus. Da kam es auf eine mehr oder weniger nicht an. Besonders die von Tutenchamun hatte sie enttäuscht. Sie war kleiner als die anderen und weniger schmuckvoll gewesen.
Der Fremdenführer hatte die Hieroglyphen erklärt. Er hatte von Ka, Osiris, Horemheb und einem Priester erzählt, der mit einer Leopardenhaut bekleidet gewesen war. Nach dreißig Minuten hatte es in Graces Kopf gekreiselt. Ramses! Horus! Informationen, Informationen! Und alles so fremdartig und anders. Und von einem Hund hatte er berichtet. Anubis?
Einmal hatte Mom sie schelmisch angeblinzelt und gesagt: »Diese Fremdenführer gehen mir auf die Nerven. Sie reden zu schnell ein zu schlechtes Englisch, obwohl sie es gut meinen.« Mom war eine tolle Frau! Nur schade, dass Daddy so früh gestorben war. Sie drei hätten ein Super-Team sein können.
Grace fielen die Augen zu. Sie stützte ihre Ellenbogen auf die Oberschenkel und ihr Kopf sank nach vorne.
Gestern Abend hatte es eine kleine Feier an Bord des Nilschiffes, der Kanack Drea m, gegeben. Sie hatten ein improvisiertes Theaterstück aufgeführt. Die Erwachsenen hatten Rotwein getrunken und es war viel gelacht worden. Mom hatte mit Brad getanzt, was Grace mit Behagen verfolgte. Sie hatte zwei Stunden vergeblich darauf gewartet, dass die beiden sich küssten. Vielmehr behandelten sich Mom und Brad lediglich wie gute Freunde. Enttäuscht war Grace gegen zwei Uhr in ihre Kabine gegangen. Mom war eine Viertelstunde später gefolgt. Um halb acht hatte der Wecker geklingelt.
Entsprechend müde war sie.
Der schattige Schlaf umschloss sie und ...
... vor sich sah sie einen Mann. Er trug eine seltsame goldene Maske auf dem Gesicht. Sein Gewand war weiß und an den Rändern farbig verziert. Der Mann beugte sich über Grace. Er atmete tief ein und aus unter seiner Maske. Es war ein bedrohliches Pumpen, das irgendwie an Darth Vader erinnerte. Seine Hände glitten auf Grace zu. Es waren schmale beringte Finger. Die Nägel waren schwarz lackiert und sehr lang. Grace wich zurück. Zurück von dieser Gestalt.
Wer war das?
Was wollte er von ihr?
Hinter ihr war eine Wand, weich wie Gummi. Grace prallte zurück nach vorne. Hinter der Maske kicherte es. Heiße Furcht umkrallte Grace. Sie spürte, dass sie träumte. Sie sagte sich, dass es Zeit sei, aufzuwachen. Aber sie erwachte nicht.
Flüchte nicht, Kind! Ich habe zu lange auf dich gewartet.
»Lass mich in Ruhe«, wehrte Grace sich und hob schützend ihre Arme.
Du bist mein. Es hat keinen Zweck, wenn du wegläufst. Ich finde dich!
»Du bist nur ein Traum.«
Ich bin wahr!
»Du bist nur ein Traum!«
Hinter der Gestalt hob sich aus dem Nichts ein schwarzer Schatten empor. Er überragte das Traumwesen um zwei Köpfe. Zitternd sah Grace, dass es sich nicht um ein menschliches Wesen handelte. Vielmehr glich
Weitere Kostenlose Bücher