Der Triumph der Heilerin.indd
sich zu ihm hin. »Ja?«
»Zeigt Ihr es mir?«
Vertrauensvoll drückte sie ihren Kopf in seine ausgestreckte Hand. Er drehte ihn sehr sanft hin und her. »Ich kann nicht mehr viel sehen. Es verheilt gut.« Das war richtig. Die Verfärbungen waren verblichen, und der Schnitt über ihrem Auge war sauber abgeheilt.
Anne tätschelte wie abwesend seine Hand, dann bückte sie sich, um weitere Äpfel aufzusammeln. »Arnika und Wundkraut. Und Ringelblumensalbe. Eine sehr einfache Behandlung, aber es geht mir wieder viel besser.«
Leif setzte zu sprechen an, unterbrach sich aber wieder. Anne war viel zu viel allein. Das war nicht gesund. Ihr Körper heilte, aber ihre Seele war immer noch krank vom Gift des Mönchs und dem Schatten von Edward Plantagenet. Er wollte den Schatten verjagen und das Gift austreiben. Wenn sie ihn nur lassen würde.
»Deborah hat mich geschickt, Euch zum Haus zu holen. Sie hat für uns alle gekocht, und Edward hat Hunger. Ihr könnt den Korb später füllen. Oder ich kann das machen.«
Anne ließ ein paar Äpfel in den Korb fallen, der bereits wieder halb voll war. »Also gut. Ich lasse den Korb hier stehen. Wir können nach dem Essen zurückkommen und ihn zusammen vollmachen, wenn Ihr wollt.«
Leif strahlte. Endlich einmal hatte sie »wir« gesagt. Er bückte sich und schulterte einen der vollen Körbe, die ordentlich aufgereiht unter dem kahlen Birnbaum standen. »Was wollt Ihr mit dem vielen Obst? Das Fallobst lässt sich doch gar nicht lagern.«
Anne passte ihr Tempo seinen langen Schritten an. Sie wollte seine Hand ergreifen, doch noch wehrte sie sich dagegen. »Meg-gan hat Deborah von einem Apfelwein erzählt, der in dieser Gegend gemacht wird. Man schält die Äpfel, presst sie, fügt Honig und Wasser hinzu und lässt alles gären. Je länger man es stehen lässt, umso stärker wird dann der Wein.« Sie lächelte zu ihm hoch. »Man trinkt ihn an Hochzeiten. Die Gäste werden von dem Wein ganz schnell fröhlich, sagen die Leute.«
»Nun, dann solltet Ihr so viel brauen, wie Ihr Gefäße habt, finde ich. Ich möchte Euch wieder fröhlich sehen.« Er holte tief Luft. »Und ich möchte Euch auch verheiratet sehen. Mit mir.«
Anne blieb stehen, Leif ebenfalls. Sie wandten sich einander zu, und sie sah ihm in die Augen, sagte aber nichts. Er wusste nicht, was sie dachte.
»Anne? Habt Ihr gehört, was ich gesagt habe?«
»Wissy, Wissy, du musst dich beeilen, sonst wird alles kalt. Und ich habe einen riesigen Hunger. Komm schnell!«
Edward, der Leif und Anne vom Küchenfenster aus entdeckt hatte, lief ihnen entgegen. Er riss ungeduldig an Annes Schürze und wollte sie zur Küche zerren.
Anne sagte mit weicher Stimme: »Ich habe Euch gehört, Leif.« Aber sie nahm die kleine Hand ihres Sohnes und ließ sich von ihm zum Haus führen. »Wir kommen, Edward. Wir haben auch Hunger, ganz bestimmt.«
Leif rief Anne nach: »Und?«
Sie drehte sich kurz um, konnte sich aber dem zielstrebigen Zerren ihres Sohnes nicht entziehen. »Sprecht morgen mit mir darüber, Leif. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.« Aber sie lächelte, als sie das sagte. Ein zaghaftes Lächeln, aber immerhin ein Lächeln. Leifs Herz machte einen Sprung. Wäre es doch nur schon morgen. Morgen würde ein guter Tag werden. Das wusste er genau.
Pfeifend hob er den Korb hoch und folgte der Frau und dem lärmenden kleinen Jungen ins Haus.
Kapitel 82
Der plötzliche Wintereinbruch vertrieb den langen, goldenen Sommer aus London. Ein erbarmungsloser Ostwind zerrte an den Bäumen und wirbelte tote Blätter durch die Luft. In den großen Räumen in Westminster war es wieder kalt, die Tage wurden kürzer, und die Feuer und Kohlebecken wurden angezündet, um die feuchte Kälte zu vertreiben.
Die Bewohner der Stadt freuten sich auf die Adventszeit. In diesem Jahr, dem Jahr des Sieges, sollte es einen richtigen Weihnachtshof geben, denn der König saß wieder fest auf seinem Thron, und alle Feinde waren vernichtet. Ja, man war wieder stolz darauf, Engländer zu sein. Der kleine Prinz ge-deihte gut, erzählte man sich, bald war sein erster Geburtstag, und manche behaupteten sogar, die Königin sei schon wieder schwanger. Vielleicht brachte sie noch einen Sohn zur Welt, dann wäre die Zukunft der Dynastie endgültig gesichert. Natürlich liebten die Londoner auch die kleinen Prinzessinnen, aber ein Land brauchte Knaben, brauchte männliche Erben. Und das war die Aufgabe der Königin, der man zugutehalten musste, dass sie wahrlich
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