Der Ursprung des Bösen
sie sich, bewegte die Arme und griff blindlings nach dem Geländer. Sekundenbruchteile später hing sie triefend und zappelnd über dem Abgrund. Das Meer hatte sie nicht gewollt. Mit den Füßen erwischte sie eine Sprosse. Sie war am Ende ihrer Kräfte, aber gleichzeitig fühlte sie sich merkwürdig erneuert, gereinigt und wiederhergestellt.
Trotz ihrer tauben Finger und zitternden Beine gelang es ihr, die Leiter hinabzusteigen. Mit weiten Nüstern atmete sie tief durch. Ihre Lunge brannte. Das Feuer des Meeres. Sie stieg und stieg und stieg. Die Leiter schien kein Ende zu nehmen.
Als endlich fester Boden unter ihr war, ließ sie sich fallen. Sie schwankte. Kaum konnte sie es fassen. Die Erde hatte sie zurück. Sie sah die Schienen der Eisenbahn, die großen Kessel und die dunklen Hafengebäude. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Sie verlor das Gleichgewicht. Als ihre Knie den Asphalt berührten, erkannte sie, dass Toinin weniger Glück gehabt hatte als sie. Sein Leichnam lag zerschmettert am Boden. Der Schädel unter der Maske war zerplatzt. Sie sah aus wie ein ekelhafter Sack voller Hirnmasse.
»Was ist mit Ihnen, Mademoiselle?«
Zwei Männer mit Regenmänteln leuchteten ihr mit Taschenlampen ins Gesicht. Durch das Knattern ihrer Kapuzen waren ihre Stimmen kaum zu verstehen. Einer der Männer entdeckte den Kabelbinder, mit dem ihre Handgelenke gefesselt waren, und wies seinen Kollegen darauf hin. Gerne hätte Anaïs etwas gesagt, doch ihre Lippen klebten unbarmherzig aufeinander.
Sie dachte an ihren Helden. Wo mochte er sein? Hatte er sich retten können? Hatte er den großen Sprung gewagt?
Die Männer halfen ihr aufzustehen. Wie sollte sie sich verständlich machen? Man musste nach Mathias Freire suchen. Nach Victor Janusz. Narcisse. Arnaud Chaplain. Und François Kubiela …
Tief in ihrer Seele jedoch gab sie ihm einen anderen Namen. Sie wollte ihn rufen. Ihn suchen. Ihn retten.
Verzweifelt wiederholte sie immer wieder ein einziges Wort:
Orpheus … Orpheus … Orpheus …
Aber kein Laut drang über ihre versiegelten Lippen.
D ie Verwüstungen des Orkans spiegelten sich in den Pfützen, dem zerbrochenen Glas und in den kaum ruhiger gewordenen Hafenbecken. Die Sonne schien und machte alles noch schlimmer. In ihrem hellen Licht traten die Zerstörungen noch deutlicher zutage. Überall glitzerte Wasser, aber sein Glanz wirkte düster und trostlos. Die Luft war lau, doch sie verströmte die ungesunde Wärme von Fieber, Krankheit und Tod.
Vorsichtig richtete er sich auf. Er steckte halb zwischen wild übereinandergeworfenen Baumstämmen und vermied die Frage, wie er hierhergekommen war. Er zog sich hoch, setzte sich auf ein Fass und betrachtete seine Umgebung. Die riesigen Flügel von Windrädern lagen auf dem Boden. Kräne waren umgestürzt. Auf dem überschwemmten Parkplatz schwammen Autos und stießen sich gegenseitig an. Entwurzelte Bäume dümpelten wie Leichen auf dem Wasser. Ein verstörender Anblick!
Er griff nach einem herabhängenden Kabel und benutzte es als Kletterseil. Langsam ließ er sich von den Stämmen heruntergleiten und landete schließlich auf dem Boden. Aber seine Beine hielten ihn nicht mehr. Sein ganzer Körper fühlte sich schwammig an. Mühsam stand er schließlich doch auf und entdeckte neue Einzelheiten. Überall waren Steine, Taue und Maststücke verteilt. Die Straße wies tiefe Löcher auf. Große Teerbrocken lagen herum. Im Hafenbecken hatten Frachtschiffe die Ecken ausgeschlagen. Ein Zollboot streckte das Heck in die Luft, ein anderes lag auf der Seite.
Er taumelte den Kai entlang und versuchte, ausgerissenen Bodenplatten, Segelfetzen, Holz- und Eisentrümmern so gut wie möglich auszuweichen.
Auf den Pollern saßen Seeleute und hielten sich den Kopf. Gendarmen und Feuerwehrleute versuchten einen Überblick über die Schäden zu bekommen. Über dem Hafengelände lag eine mit Angst gepaarte Stille. Die Natur hatte gesprochen, und darauf gab es keine Antwort.
Plötzlich schwindelte ihn. Er beugte sich nach vorn und legte die Hände auf die Knie. Auch er war nur ein Bruchstück unter vielen anderen.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Er hob den Kopf und versuchte die Herkunft der Stimme auszumachen. Vor ihm standen zwei Feuerwehrleute in schwarzen Anoraks mit fluoreszierenden Streifen.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
Er antwortete nicht. Er hatte keine Ahnung, wie er sich fühlte.
»Woher kommen Sie? Wo wohnen Sie?«
Er öffnete den Mund und spürte, wie Hände nach ihm
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