Schlafender Tiger. Großdruck.
1
D as Hochzeitskleid war cremigweiß mit einem Hauch Rosa darin, wie das Innere einer Muschel. Die steife, dünne Seide glitt über den roten Teppich, während Selina ein paar Schritte ging, und als sie sich umdrehte, blieb der Saum am Teppich haften, so daß sie das Gefühl hatte, das Kleid wickele sie ein wie ein luxuriöses Geschenk.
Miss Stebbings sagte mit hoher, damenhafter Stimme: „O ja, eine bessere Wahl hätten Sie nicht treffen können. Es ist einfach parfait." Sie liebte französische Ausdrücke. „Was ist mit der Länge?“
„Ich weiß nicht... Was meinen Sie?“
„Wir werden es etwas hochstecken. Mrs. Bellows?“
Mrs. Bellows, die in einer Ecke gewartet hatte, bis man sie brauchte, kam herbeigeeilt. Während Miss Stebbings in feinen Crepe de Chine gekleidet war, trug Mrs. Bellows einen schwarzen Nylonkittel und Schuhe, die Hauspantoffeln verdächtig ähnlich sahen. An ihrem Handgelenk klemmte ein Nadelkissen aus Samt, festgehalten von einem Gummiband.
Sie kniete sich hin und begann den Saum hochzustecken. Selina beobachtete sie im Spiegel. Sie bezweifelte Miss Stebbings' Ansicht, daß das Kleid einfach parfait für sie war. Sie sah darin viel zu dünn aus (sie hatte doch nicht etwa noch mehr abgenommen?), und die warme Farbe betonte ihre Blässe noch. Der Lippenstift war weitgehend verschwunden, außerdem sah man ihre Ohren.
Sie versuchte ihr Haar so zu schütteln, daß es die Ohren bedeckte, und erreichte damit nur, daß die kleine Seidenkrone, die Miss Stebbings ihr aufgesetzt hatte, verrutschte. Als sie den Arm hob, um die Krone wieder geradezurücken, rutschte auch noch der Saum ihres Kleides nach oben, worauf Mrs. Bellows scharf den Atem einzog, offenbar in Erwartung einer schrecklichen Katastrophe.
„Verzeihung“, entschuldigte sich Selina.
Miss Stebbings lächelte kurz und begütigend. „Wann ist denn der glückliche Tag?“ fragte sie im Plauderton.
„Wir dachten uns, so in einem Monat... glaube ich.“
„Es wird keine große Hochzeit sein?“
„Nein.“
„Natürlich nicht. Unter den Umständen.“
„Ich wollte eigentlich kein richtiges Hochzeitskleid. Aber Rodney... Mr. Ackland ...“ Sie zögerte wieder, und dann sprach sie es aus: „Mein Verlobter...“ Miss Stebbings setzte ein geradezu widerlich strahlendes Lächeln auf. „Er war anderer Meinung. Er sagte, meine Großmutter hätte gewollt, daß ich in Weiß heirate.“
„Natürlich hätte sie das. Wie recht er hat! Ich finde immer, eine Hochzeit in engstem Familienkreis mit der Braut in Weiß hat ihren ganz besonderen Charme. Keine Brautjungfern?“
Selina schüttelte den Kopf.
„Wie reizend. Nur Sie beide. Fertig, Mrs. Bellows? Nun, wie gefällt es Ihnen jetzt? Gehen Sie ruhig ein paar Schritte.“ Selina gehorchte. „Viel besser. Wir wollen doch nicht, daß Sie stolpern.“
Selina bewegte sich nervös in dem raschelnden Taft. „Es kommt mir schrecklich weit vor.“
„Ich glaube, Sie sind noch dünner geworden.“ Miss Stebbings zupfte den Stoff zurecht.
„Vielleicht nehme ich vor der Hochzeit wieder etwas zu.“
„Das bezweifle ich. Wir ändern es lieber ein ganz kleines bißchen, nur zur Sicherheit.“
Mrs. Bellows erhob sich und steckte einige Nadeln an der Taille fest. Selina machte noch ein paar Schritte und Drehungen, schließlich wurde der Reißverschluß geöffnet und das Kleid vorsichtig über ihren Kopf gezogen, worauf Mrs. Bellows es wie eine Trophäe davontrug.
„Wann wird es fertig sein?“ fragte Selina, während sie ihren Pullover überzog.
„In zwei Wochen, denke ich“, erwiderte Miss Stebbings. „Und wie haben Sie sich wegen des Krönchens entschieden?“
„Ich glaube, ich nehme es. Es ist recht schlicht.“
„Ich
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