Der verborgene Charme der Schildkröte
beantworten.
Hebe Jones tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Sammlung ihres Ehemanns irgendwann komplett und die Sache damit gegessen sein würde. Ihre Hoffnungen schwanden, als er eines Abends auf dem Bett saß, seine klamme linke Socke auszog und mit der Verbissenheit eines Mannes, der die Existenz von Drachen zu beweisen sucht, erklärte, dass er bestenfalls die Spitze des Eisbergs berührt habe. Damals gründete er auch den Sankt-Heribert-von-Köln-Club, benannt nach dem Schutzpatron des Regens, und ließ offizielles Briefpapier mitsamt Umschlägen drucken, um mit anderen Wetterenthusiasten Beobachtungen austauschen zu können. In verschiedenen Zeitungen auf der ganzen Welt schaltete er Anzeigen, aber der einzige Brief, den er je erhielt, trug deutliche Wasserflecken und kam von einem anonymen Absender in Mawsynram in Nordostindien, das unter den schwersten Regenfällen der Welt zu leiden hatte. »Mr. Balthazar, Sie müssen von diesem Unfug so schnell wie möglich Abstand nehmen. Das Einzige, was noch schlimmer ist als ein Verrückter, ist ein nasser Verrückter.« Mehr stand nicht in dem Brief.
Der Mangel an Interesse trieb ihn nur noch mehr an. Seine gesamte Freizeit verbrachte der Beefeater damit, an Meteorologen zu schreiben und ihnen von seinen Beobachtungen zu berichten. Von allen erhielt er eine Antwort, und immer wenn er einen Brief öffnete, zitterten seine geschmeidigen Uhrmacherfinger. Der Höflichkeit der Experten entsprach allerdings ein eben solches Desinteresse. Er änderte seine Taktik und versenkte sich in der British Library in staubige Pergamente und Bücher, die so empfindlich waren wie seine Gesundheit. Die Augen von der Lesebrille stark vergrößert, fraß er sich durch alles hindurch, was je über Regen geschrieben worden war.
Irgendwann gelangte Balthazar Jones zu der Überzeugung, dass er eine Regenart aufgespürt hatte, die seinen Erkenntnissen zufolge seit 1892 in Kolumbien nicht mehr gefallen war. Damit war sie die seltenste der Welt. Immer wieder las er die Beschreibung des plötzlichen Schauers, der durch eine Reihe von unglückseligen Zufällen zum vorzeitigen Ableben einer Kuh geführt hatte. Er versteifte sich auf die Idee, dass er diesen Regen am Geruch erkennen würde, bevor er ihn auch nur zu sehen bekäme. Täglich hoffte er darauf, er möge herabregnen. Die Besessenheit löste seine Zunge, und so hörte er sich eines Nachmittags seiner Frau davon berichten, dass er sich nichts sehnlicher wünsche, als diese Art in seine Sammlung aufnehmen zu können. Mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Mitleid schaute sie zu dem Mann hoch, der über den Tod ihres Sohnes Milo nie auch nur eine einzige Träne vergossen hatte, und als sie sich wieder über die Narzissenzwiebeln beugte, die sie auf dem Dach des Salt Towers in einen Kübel pflanzte, fragte sie sich nicht zum ersten Mal, was mit ihrem Ehemann geschehen war.
Den Rücken der Eichentür des Salt Towers zugekehrt, spähte der Beefeater in die Dunkelheit, um sicherzustellen, dass keiner der Festungsbewohner ihn sehen würde. Nichts regte sich, außer einer fleischfarbenen Strumpfhose, die an einer Wäscheleine auf dem Dach der Kasematten baumelte. In den alten Häuschen, die man nebeneinander an die Festungsmauer gebaut hatte, lebten viele der fünfunddreißig Beefeater, die mit ihren Familien im Tower residierten. Die Übrigen, wie Balthazar Jones, hatten das Pech, in einem der einundzwanzig Türme untergebracht zu sein oder, schlimmer noch, in einem Häuschen an den Grünanlagen des Towers, dem Schauplatz von sieben Enthauptungen, darunter fünf Frauen.
Balthazar Jones lauschte aufmerksam. Der einzige Laut, der durch die Dunkelheit drang, stammte von einem Wachmann, der im präzisen Takt einer Schweizer Uhr sein Revier abschritt. Wieder schnupperte der Beefeater in die Nacht hinaus und wurde plötzlich von Selbstzweifeln befallen. Er verfluchte sich selbst, weil er so dumm war zu glauben, dass der Moment nun endlich gekommen war. Und als er sich vorstellte, wie seine Frau im Traum ein ganzes Konzert an exotischen Lauten ausstieß, beschloss er, ins warme, vertraute Bett zurückzukehren. Aber kaum wollte er gehen, roch er es wieder.
Auf dem Weg zu den Zinnen stellte er erleichtert fest, dass die Lichter im Rack & Ruin bereits erloschen waren. Trotz eines Bombeneinschlags während des Zweiten Weltkriegs versorgte die Tower-Schenke die kleine Gemeinde nun schon ununterbrochen seit zweihundertsiebenundzwanzig Jahren, und
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