Der verborgene Charme der Schildkröte
unter den gegenwärtigen Mietern ihres Hauses in Catford vollkommen verwahrloste. Dann ging es um den Tratsch, der sich in den Gemäuern wie Lauffeuer ausbreitete. Und schließlich waren da noch die ewigen Klagelaute in ihrer Behausung, die einst unter Elisabeth I. als Gefängnis für katholische Priester gedient hatte, Laute, von denen sie Milo gegenüber immer behauptet hatten, sie nicht zu hören.
Balthazar Jones schloss die Augen, weil er diese Klagen zur Genüge kannte, und griff zu Messer und Gabel. Plötzlich aber kam seine Frau auf eine andere Entbehrung zu sprechen, was ihn unweigerlich aufhorchen ließ. Trotz ihrer unerbittlichen Abneigung gegen italienisches Essen, die ihr Ehemann auf den uralten Argwohn der Griechen gegen alles Italienische zurückführte, erklärte sie: »Alles, was ich möchte, ist, mir einfach mal eine Pizza bestellen zu können!« Er schwieg, weil es eine unleugbare Tatsache war, dass sie an einer Adresse wohnten, die Taxifahrer, Waschmaschinenreparateure, Zeitungsboten und ausnahmslos sämtliche Beamten, die ihnen je ein Formular zum Ausfüllen gereicht hatten, für einen Scherz hielten.
Schließlich legte er sein Besteck nieder und richtete den Blick wieder auf sie. Seine Augen hatten die Farbe blasser Opale – Augen, die niemand vergaß, der ihm je über den Weg gelaufen war. »Wo sonst könntest du inmitten von neunhundert Jahren Geschichte leben?«, fragte er.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Praktisch überall in Griechenland«, erklärte sie. »Und dort wäre sie noch wesentlich älter, die Geschichte.«
»Dir ist offenbar gar nicht klar, wie viel Glück wir haben, dass ich diesen Job überhaupt bekommen habe.«
»Glück ist, wenn man Steine sät und Kartoffeln erntet«, sagte sie und kam mit einem der obskuren Sprüche ihrer griechischen Großeltern. Dann machte sie sich daran, in den Trümmern ihrer Beziehung herumzuwühlen und alte Verletzungen auszugraben, und Balthazar Jones tat es ihr nach. Keine dunkle Stelle blieb unausgeleuchtet, und als sie sich vom Tisch erhoben, waren die Risse ihrer brüchigen Liebe schutzlos der feuchten Morgenluft preisgegeben.
Mit schnellen wütenden Schritten stieg Hebe Jones die Treppe zum Schlafzimmer hoch. Als sie sich anzog, um zur Arbeit zu gehen, dachte sie mit Bedauern daran, dass sie ihren Mann selbst darin unterstützt hatte, die Arbeit im Tower zu bekommen, nachdem er mit seinem Schneidergeschäft gescheitert war. Als Schneidermeister der Armee war er früher für die prächtigen Uniformen der Fußgarde verantwortlich gewesen und hatte, als er die Bärenfellkappe abgelegt hatte, gerne im selben Beruf weiterarbeiten wollen. Aber als er entsprechende Räumlichkeiten anmieten wollte, erinnerte ihn seine Frau an die Hypothek, die auf ihrem Haus lastete, und ermahnte ihn: »Bleib mit dem Fuß auf deinem Teppich.« Folglich nahm er das Vorderzimmer ihres Reihenhauses in Catford in Beschlag, baute eine Theke und ließ sich, das Maßband wie eine Stola um den Hals gelegt, dahinter nieder.
Ein Jahr später wurde nach zwei Jahrzehnten fruchtloser ehelicher Bemühungen Milo geboren. Balthazar Jones kümmerte sich um ihn, wenn seine Frau im Büro war. Wenn er keinen Kunden hatte, stellte er den Korb mit dem Baby auf die Theke, zog sich einen Stuhl heran und erzählte seinem Sohn alles, was er über das Leben wusste. Er ermahnte ihn, in der Schule fleißig zu sein, damit er nicht wie sein Vater als Dummkopf ende. Das Kind wurde auch davon in Kenntnis gesetzt, dass es zufälligerweise in eine Familie hineingeboren sei, zu deren Mitgliedern die älteste Schildkröte der Welt zähle. »Du wirst dich um sie kümmern müssen, wenn deine Mutter und ich im Alter vertrotteln, wozu deine Großeltern mütterlicherseits immer eine deutliche Neigung gezeigt haben«, sagte er, während er Milos Decke feststeckte. Und stets wies er darauf hin, dass es von allen möglichen Segnungen in seinem, Milos, Leben die größte sei, Hebe Jones zur Mutter zu haben. »Jeder Mann, den ich im Leben getroffen habe, tat mir leid, weil er nicht mit ihr verheiratet war«, gestand er. Milo hörte zu, und seine dunklen Augen ließen seinen Vater nicht aus dem Blick, während er an seinen Zehen kaute.
Eine Weile lang schien es, als hätte Balthazar Jones mit der Eröffnung der Schneiderwerkstatt die richtige Entscheidung getroffen. Irgendwann klopften allerdings immer weniger Kunden an die Tür des Hauses, in dessen Vorgarten ein Vogelhäuschen mit der
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