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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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Großvater?«
    »Genau.«
    »Harald, der Bärenwächter, der den Eisbär zur Themse mitnahm, wo er, angebunden an ein Seil, nach Lachsen fischen konnte, begriff schnell, dass ihn niemand verstand. Er verstand die anderen ebenfalls nicht. Entsprechend verzichtete er auf den Versuch, Kontakt aufzunehmen, verbrachte seine gesamte Zeit mit seiner weißen Bürde und schlief auch im selben Käfig. Die Streitigkeiten waren längst vergessen. Letztlich wussten sie genau, was der andere dachte, obwohl niemand von ihnen je ein Wort sagte. In der Nacht füllte sich der Käfig mit Träumen von der gemeinsamen Heimat mit ihren glänzenden weißen Weiten und dieser Luft, die reiner war als Tränen. Schließlich forderte der Skorbut Haralds Leben, und keine Stunde später starb der Eisbär an gebrochenem Herzen.«
    Als Balthazar Jones ans Ende gelangt war, sah er, dass an jeder von Milos Wangen eine Träne herablief. Der Junge bestand aber darauf, dass sein Vater weitererzählte. »1255 wurde Heinrich ein weiteres Tier geschickt«, fuhr der Beefeater fort, »diesmal von Ludwig IX., und auch dieses Tier war das erste seiner Art in England. Eine ganze Reihe von Damen, die am Ufer der Themse standen, um seine Ankunft zu beobachten, fielen in Ohnmacht, als sie sahen, dass es nicht mit dem Mund, sondern mit seiner ungebührlich langen Nase trank.
    Der König ordnete an, dass man im Tower ein Holzhaus für das Tier errichten möge. Trotz des sanften Wesens und der faltigen Knie der Kreatur hatte er aber größte Angst vor ihr, und so schaute er, statt den Käfig zu betreten, durch die Gitterstäbe hinein, sehr zum Vergnügen der Gefangenen des Towers. Fast war es eine Erleichterung für den König, als das Tier zwei Jahre später einen letzten Atemzug mit seiner mysteriösen Nase tat, umkippte und seinen Wärter, der erst nach mehreren Tagen befreit werden konnte, unter sich begrub.
    »Aber warum musste der Elefant denn sterben?«, fragte Milo und klammerte sich an seine Stegosaurus-Decke.
    »Tiere müssen ebenfalls sterben, mein Sohn«, antwortete Balthazar Jones. »Sonst gäbe es im Himmel ja keine Tiere für Großmutter, nicht wahr?«
    Milo schaute seinen Vater an. »Wird Mrs. Cook auch in den Himmel kommen?«, fragte er.
    »Irgendwann schon«, sagte der Beefeater.
    Eine Pause trat ein.
    »Daddy?«
    »Ja, Milo?«
    »Werde ich in den Himmel kommen?«
    »Ja, mein Sohn. Aber das dauert noch ganz, ganz lange.«
    »Werdet ihr auch da sein, du und Mama?«
    »Ja«, antwortete er und streichelte dem Jungen über den Kopf. »Wir werden da sein und auf dich warten.«
    »Ich werde nicht alleine sein, nicht wahr?«, fragte der Junge.
    »Nein, mein Sohn. Du wirst nicht alleine sein.«

KAPITEL SECHS
    Nachdem er sich in seiner trostlosen Teekanne für eine Person Ingwertee gekocht hatte, trug er ihn die zwei Stockwerke zu seinem Arbeitszimmer hinauf und raffte, um nicht zu stolpern, auf den ausgetretenen Holzstufen den angenagten Saum seiner Soutane hoch. Das einzige Zugeständnis an Bequemlichkeit in seinem Arbeitszimmer war ein einsamer Ledersessel, in dem ein Patchworkkissen von einer seiner Schwestern lag. Daneben stand eine Leselampe, die er aus dem Katalog bestellt hatte. Monatelang hatte er darauf warten müssen, weil man die Adresse für einen Scherz gehalten hatte. Über dem Kaminsims hing ein Bild der Jungfrau Maria, ein entschieden katholisches Produkt, das seinen Vater wegen der exquisiten Pinselführung dazu verleitet hatte, es auf der Hochzeitsreise für seine Frau zu kaufen. Als Rev. Septimus Drew die Zugluft spürte, die durch die Schiebefenster drang, schaute er bedauernd auf den Kamin, den er nicht mehr benutzen durfte, seit einmal ein Kohlestück herausgefallen war und den alten Flickenteppich in Brand gesetzt hatte. Man nahm an, dass er tief ins Gebet versunken gewesen war, weil er den Gestank nach Tausenden von ungewaschenen Füßen nicht bemerkt hatte, dabei war er in Wahrheit in seiner Werkstatt gewesen und hatte versucht, eine Miniatur-Armada auf Rädern und mit voll funktionstüchtigen Kanonen zu bauen.
    Soutane und Kragen, die er seinem Vorhaben nicht angemessen fand, legte er ab und hängte sie an den Haken an der Tür. In Erwartung der Aufgabe, die vor ihm lag, setzte er sich freudig erregt auf den Küchenstuhl vor dem schlichten Tisch und nahm sein Schreibzeug aus der Schublade. Als er den Deckel von dem Füllfederhalter abschraubte, der ihn seit seiner Schulzeit wie ein treues Schwert begleitete, las er den letzten

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