Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
Vom Netzwerk:
einen Chemiebaukasten besorgen, wenn du magst, dann könntest du selber Experimente machen. Du könntest es knallen lassen, und dann wollen wir doch mal sehen, ob deine Mutter nicht noch höher springt als in der Bonfire Night.«
    Am Abend jedoch kroch Milo wieder in das Bett seiner Eltern, wo er im Schlaf zitterte, als wäre er von Dämonen besessen. Schließlich gelang es Balthazar Jones dank eines Geistesblitzes während des Mittagessens in der schäbigen Küche des Salt Towers, das Ehebett wieder für sich zu erobern.
    »Wann kehren wir nach Catford zurück?«, hatte Milo gefragt, den Mund mit Hackfleischsoße verschmiert.
    »Wenn das Schaf bäh sagt, fällt ihm der Brocken aus dem Maul«, antwortete Hebe Jones.
    Der Beefeater sah erst seine Frau und dann seinen Sohn an. »Ich denke, was deine Mutter dir mitteilen möchte, ist, dass man nicht mit vollem Mund spricht«, erklärte er. Dann wickelte er mit seiner Gabel ein paar Spaghetti auf und sagte, ohne aufzublicken: »Milo, du lebst wirklich an einem ganz besonderen Ort, das solltest du wissen. Sechshundert Jahre lang hatte der Tower einen eigenen kleinen Zoo, weil es Tradition war, dem Königshaus lebende Tiere zu schenken.«
    Milo schaute seinen Vater an. »Was denn für Tiere?«, fragte er.
    Der Beefeater hielt den Blick gesenkt. »Das erzähle ich dir heute Abend vor dem Zubettgehen, aber nur, wenn du in deinem eigenen Bett schläfst«, antwortete er. »Möglicherweise stammten sie sogar von den Dinosauriern ab.«
    Den Rest des Tages verbrachte Balthazar Jones damit, Dokumente zu studieren, die er den gierigen Fingern des Wächters der Tower-Geschichte entrissen hatte. Als die Nacht hereinbrach, schloss er die Vorhänge, die er für das Zimmer seines Sohns genäht hatte. Dann deckte er ihn bis zum Kinn zu und setzte sich auf die Bettkante.
    »Die Menagerie ist unter der Regentschaft von Johann Ohneland eröffnet worden«, erklärte er. »Möglicherweise hatte der König 1204, als er die Normandie verloren hatte, drei Kisten mit wilden Tieren aus dieser Provinz kommen lassen. 1235 dann wurde sein Sohn, König Heinrich III., nach einem enttäuschenden Mittagessen plötzlich aus dem Schlaf gerüttelt. Die knochigen Finger, die das taten, gehörten einem ängstlichen Höfling, der ihn davon in Kenntnis setzen wollte, dass soeben per Schiff ein Überraschungsgeschenk von Friedrich II., dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, eingetroffen sei und einen ungeheuren Radau veranstalte. Bei dem Gedanken an ein unerwartetes Geschenk zog sich der König begeistert seine Stiefel an und eilte zum Themseufer. Die Kisten wurden aufgestemmt und ließen drei stinkende Leoparden zum Vorschein kommen. Nichts konnte den König davon überzeugen, dass die Flecken unabdingbarer Teil ihrer Schönheit und nicht Anzeichen für eine Krankheit waren, und so wurden ein paar der seltensten Tiere Englands sich selbst überlassen und trotteten in ihren Käfigen hin und her.«
    Milo, der wie gebannt zugehört hatte, fragte: »Wenn Flecken so schön sein sollen, warum wird Mama dann immer sauer, wenn sie einen bekommt?«
    »Flecken sind schön an Tieren, nicht an Damen«, erklärte Balthazar Jones.
    In der nächsten Nacht ging Milo wieder in sein eigenes Bett, verführt vom Versprechen einer neuen Folge. Der Beefeater setzte sich, bewunderte an seinem Sohn die schönen dunklen Augen seiner Frau und fuhr mit seiner Erzählung fort.
    »1251 kam ein weiteres Geschenk im Tower an, dieses Mal aus Norwegen. Der Eisbär und sein Wärter erschienen unangekündigt in einem kleinen, salzverkrusteten Boot. Damals konnten die beiden, die vom Kurs abgekommen und bereits monatelang unterwegs waren, die Gesellschaft des anderen nicht mehr ertragen, und die Reise die Themse hinauf war der Stimmung auch nicht zuträglich gewesen. Beiden war es zutiefst zuwider, angestarrt zu werden, und die Hysterie beim Anblick des weißen Bären – des ersten, den man in England zu Gesicht bekam – und die Kommentare zum Kleidergeschmack des Wärters führten bei den Neuankömmlingen dazu, dass sie erst einmal schmollten. Ihre Laune verschlechterte sich weiter, als sie ihre verfallene Behausung in der Festung sahen. In der Annahme, mit einem derart weißen Fell müsse das Wesen mindestens dreihundert Jahre alt sein, gefiel es dem König, es einfach nur anzuschauen, so wie man eine seltene Antiquität bestaunt.«
    »Was ist eine Antiquität?«, fragte Milo.
    »Etwas sehr, sehr Altes.«
    Eine Pause trat ein.
    »Wie

Weitere Kostenlose Bücher