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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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im weißen Nachthemd in der Tür stehen sehen könne. Als Nächstes rannten sie über den Teil der Festungsmauer, wo oft der Geist von Sir Walter Raleigh, gekleidet nach der neuesten elisabethanischen Mode, einherschritt. Nachdem sie noch ein weiteres Dutzend Spukorte aufgesucht hatten, gelangten sie schließlich an den Martin Tower, in welchem die Erscheinung eines Bären einen Soldaten derartig erschreckt hatte, dass er tot umgefallen war.
    Trotz des neuen Stegosaurus-Bettbezugs und des Tyrannosaurus-Posters, das Balthazar Jones mit Müh und Not an den kalten Wänden befestigt hatte, weigerte sich Milo in dieser Nacht, in dem anfangs so bewunderten runden Raum zu schlafen. Als es Zeit fürs Bett war, stieg er in seinen winzigen Pantöffelchen die Wendeltreppe hoch und schlüpfte zwischen die Decken seiner Eltern. Dort lag er auf dem Rücken, presste die Arme an die Seite und weigerte sich, die Augen zu schließen, »für den Fall, dass sie kommen sollten, um mich zu holen«. Als er dann schließlich ins Reich der Träume versank, trat er seinen Vater gegen das Schienbein, weil er seinen Folterknechten zu entkommen suchte. Balthazar Jones wachte auf und gab einen lauten Schrei von sich, Sekunden später gefolgt von seiner Frau und seinem Sohn, die vor lauter Schreck ebenfalls in das Geschrei einstimmten.
    Der Beefeater tat alles, um den Schatten, den die grausame Vergangenheit des Towers auf seinen Sohn geworfen hatte, zu lichten. Doch obwohl er darauf hinwies, dass die Todesstrafe abgeschafft worden sei, die Wissenschaft die Existenz von Geistern bestreite und Rev. Septimus Drew so normal sei, wie man es von einem Mitglied des Priesterstands nur erwarten könne, war der Junge nicht zu beruhigen.
    Balthazar Jones nahm ihn bei der Hand und machte mit ihm einen Spaziergang über die Festungsmauer. Als sie an der Tower Bridge hinabschauten, wies der Beefeater darauf hin, dass einige der Gefangenen ein weitaus komfortableres Leben hatten als die Armen, die außerhalb der Festung lebten.
    »Erinnerst du dich an John Balliol, den schottischen König, von dem ich dir erzählt habe? Der im Salt Tower eingesperrt war? Dem ging es prächtig«, behauptete der Vater und lehnte sich gegen die Brüstungsmauer. »Er hat eine Menge Personal mitgebracht: zwei Knappen, einen Jäger, einen Friseur, einen Kaplan, einen Küster, zwei Stallburschen, einen Schneider, eine Waschfrau und drei Pagen. Er durfte den Tower sogar verlassen, um auf die Jagd zu gehen. Der hatte es besser als wir. Deine Mutter hat mich schon zwei Mal in den Waschsalon geschickt, weil unsere Waschmaschine nicht ging. Nachdem er seine Strafe verbüßt hatte, wurde er allerdings nach Frankreich verbannt. Das ist natürlich wirklich grausam.«
    Milo aber, der auf den Zehenspitzen balancierte, um über die Mauer schauen zu können, war nicht überzeugt.
    »Oder nehmen wir Sir Walter Raleigh«, fuhr Balthazar Jones fort. »Das ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe, dass er die Kartoffeln entdeckt hat und drei Mal im Tower gefangen war.«
    »War er gefangen, weil er die Kartoffeln entdeckt hat?«, fragte Milo und schaute zu seinem Vater hoch.
    »Nicht ganz. Beim ersten Mal war er es, weil er eine Hofdame von Elisabeth I. geheiratet hat, ohne die Königin um Erlaubnis zu fragen. Dann wurde er wegen Hochverrats eingesperrt, und dann noch einmal, weil er wegen der Suche nach Gold einen Krieg zwischen Spanien und England angezettelt hat. Du hast aber vollkommen recht, Kartoffeln sind ein mehr als fragwürdiges Gemüse. Ich für meinen Teil würde die Person einsperren, die den Rosenkohl entdeckt hat. Wo war ich noch gleich? Ach ja, während seiner dreizehnjährigen Gefangenschaft im Bloody Tower wurden Sir Walter Raleigh drei Diener zugestanden, stell dir das mal vor! Du hättest sicher auch gerne jemanden, der deine Socken für dich aufsammelt, oder?«
    Aber Milo antwortete nicht.
    Der Beefeater erzählte ihm nun, dass die Frau und der Sohn des Kartoffel-Entdeckers manchmal bei ihm im Bloody Tower wohnen durften und dass der zweite Sohn dort geboren und in der Kapelle getauft worden war.
    »Raleigh durfte sogar im Tower-Garten die exotischen Pflanzen anbauen, die er aus den von ihm entdeckten Ländern mitgebracht hatte«, fuhr er fort. »Und in einem alten Hühnerstall hat er eine Destillerie eingerichtet, wo er mit medizinischen Substanzen experimentiert und sie dann verkauft hat. Auch einen kleinen Schmelzofen hat er gebaut, um Metalle zu schmelzen. Wir könnten dir

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