Der verborgene Charme der Schildkröte
gelesen hatte, las er ihn gleich noch einmal, um sicherzugehen, dass er richtig verstanden hatte. Dann faltete er den Brief wieder zusammen, steckte ihn in den Umschlag zurück und legte ihn in die Schreibtischschublade. Verwundert lehnte er sich zurück und fragte sich, ob es tatsächlich wahr sein konnte, dass er soeben auf der Shortlist für den Erotic Fiction Award gelandet war.
Balthazar Jones stand am Haus Nummer sieben an den Grünanlagen des Towers und klopfte. Als nach mehreren Minuten immer noch niemand geöffnet hatte, stellte er den Käfig ab, legte die Hände an die Fensterscheibe und versuchte, durch den Spalt im Vorhang zu schauen. Schließlich erschien der Yeoman Gaoler an der Tür, hielt den Morgenmantel über seinem Bauch zusammen und schützte sich mit der Hand vor dem gleißenden Licht, das durch die Wolken fiel.
»Alles okay bei Ihnen?«, fragte Balthazar Jones.
Der Yeoman Gaoler kratzte sich an der Brust. »Letzte Nacht habe ich wenig geschlafen.«
»Kann ich kurz hereinkommen?«
Der Yeoman Gaoler trat beiseite, um den Mann durchzulassen. »In der Küche ist es vielleicht wärmer«, sagte er.
Balthazar Jones ging durch den Flur und stellte den Käfig auf den Küchentisch. Der Yeoman Gaoler setzte sich und fuhr sich mit der Hand durchs zerzauste Haar.
»Was ist das?«, fragte er und nickte zu dem Käfig hinüber.
»Die Etruskerspitzmaus. Ich hatte gedacht, dass Sie sich vielleicht darum kümmern könnten. Sie ist hochgradig nervös.«
Der Yeoman Gaoler schaute ihn an. »Wie sollen die Touristen sie denn anschauen können, wenn sie bei mir zu Hause ist?«, fragte er.
»Sie müssten sich vorher anmelden. Aber wenn ich ehrlich sein soll, bin ich nicht allzu böse, wenn sie es nicht tun. Ich möchte nur sicherstellen, dass sie überlebt.«
»Lassen Sie mal sehen.«
Balthazar Jones steckte seine Hand in den Käfig und nahm den Deckel von dem winzigen Plastikhäuschen.
Der Yeoman Gaoler stand auf und schaute hinein. »Ich sehe nichts«, erklärte er.
»Sie hockt in der Ecke.«
Der Mann nahm seine Brille und schaute noch einmal hinein. »Das Ding da? Sind Sie sicher, dass sie noch lebt?«, fragte er.
»Natürlich bin ich mir sicher. Heute Morgen hat sie sich noch bewegt.«
Der Yeoman Gaoler starrte die Kreatur weiterhin an, kratzte sich dann im Nacken und erklärte: »Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass Spitzmäuse etwas für mich sind.«
Der Beefeater musterte ihn einen Moment lang. »Die andere Aufgabe, für die ich Sie vorsehen könnte, wäre Hilfe bei den Pinguinen«, sagte er. »Die sind ein Geschenk des Präsidenten von Argentinien. Offenbar stammen sie von den Falklandinseln.«
Nachdem er Balthazar Jones hinausbegleitet hatte, kehrte der Yeoman Gaoler in die Küche zurück, setzte sich und starrte mit dem verschwommenen Blick des Erschöpften auf den Käfig. Eigentlich war er am Abend zu einer anständigen Zeit ins Bett gegangen und hatte sich sogar einen neuen Schlafanzug angezogen, weil er gedacht hatte, der Horror sei endlich vorbei. Bevor er sein abendliches Bad genommen hatte, hatte er alle Fenster im Haus geöffnet und in Rückbesinnung auf eine alte Methode, Geister auszutreiben, in den Ecken sämtlicher Räume ein schwelendes Reisigbündel geschwenkt. Der Rauch war an den Wänden hochgekrochen und hatte sich dann in der Nacht verflüchtigt. Kurz vor der Morgendämmerung jedoch hatte ihn das Geräusch schwerer Stiefel auf dem Dielenboden seines Esszimmers unter ihm geweckt, und mit einem deutlichen Devonshire-Akzent waren die allerunflätigsten Tiraden gegen die Spanier losgelassen worden. Nachdem er all seinen Mut zusammengenommen hatte, war er die mit Tabaksqualm vollgeräucherte Treppe hinuntergestiegen und hatte entdeckt, dass die Kartoffeln, die er sich zum Frühstück hatte braten wollen, verschwunden waren. Schnell war er ins Schlafzimmer zurückgeeilt, hatte die Tür abgeschlossen, sich die Bettdecke über die Nase gezogen und panisch auf die unwirklichen Geräusche gelauscht, die bis weit in die Dämmerung hinein angehalten hatten.
Hebe Jones erschien früher als sonst im Fundbüro der Londoner Untergrundbahn, weil sie vom Getöse der Brüllaffen geweckt worden war. Ihr Ärger nahm nur noch zu, als sie gemerkt hatte, dass nicht nur ihr Ehemann verschwunden war, sondern auch die Pampelmuse, die sie sich fürs Frühstück gekauft hatte. Während sie darauf wartete, dass das Teewasser kochte, durchforstete sie den Kühlschrank nach etwas Essbarem und entdeckte
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