Der verbotene Kuss
denken, ehe man handelte, und den Lockruf des Verlangens oder den eigenen Groll ignorieren. Das hatte er schon vor zehn Jahren auf sehr schmerzliche Weise begriffen. Nur seine Bemühungen, diese Versuchungen zu verdrängen, hatten ihm das Überleben gesichert. Sie würden auch die Grundlage dafür sein, dass er diesen Kampf gewann, nicht nur den gegen Lord X, sondern auch den gegen den verruchten Onkel.
Er schlenderte auf die Treppe zu, machte jedoch davor kehrt. Und in diesem Moment brach die Decke des Entrees ein. Der Knall hinter ihm veranlasste ihn, sich umzudrehen. Gerade noch rechtzeitig sah er ein Stück Gips nur wenige Zentimeter von der Stelle, wo er einen Augenblick vorher gewesen war, auf den Fußboden krachen.
Er verengte die Augen. Nein, das war kein Stuck. Er stieß mit der Schuhspitze dagegen. Es zerbröselte und blieb an seinem Schuh haften. Überrascht stellte er fest, dass die unförmige Masse ein Klumpen dreckigen Schnees war, der anfing, auf dem Marmorfußboden zu schmelzen.
Jungenstimmen drangen zu ihm herunter. „Donnerwetter! Das ist er nicht! “ rief ein Knabe aus. Eine ähnlich klingende Stimme erwiderte: „Das ist ein anderer Mann.“ Ian schaute auf und sah drei Augenpaare auf sich gerichtet. Drei ganz gleich aussehende Augenpaare, die zu drei ganz gleich aussehenden, eine Etage höher über das Treppengeländer gereckten Gesichtem gehörten. Er blinzelte mehrmals, merkte jedoch, dass er sich nicht irrte. Die drei Jungen sahen völlig gleich aus. Einer von ihnen hielt einen leeren Eimer in der Hand.
„Na hört mal!“ rief Ian ihnen zu. „Begrüßt ihr alle Gäste in dieser freundlichen Weise?“
Ein weiteres Gesicht tauchte über dem Treppengeländer auf, das eines älteren Jungen, dessen bestürzte Miene sich stark von den neugierigen Gesichtern der drei jüngeren Knaben unterschied. „Oh, Georgie! Was hast du dieses Mal angestellt? Lissy wird furchtbar wütend sein!“
Lissy? Vielleicht war sie das Kindermädchen. Denn diese Kinder mussten Lord X Söhne sein. Hm! Eineiige Drillinge! Eine Seltenheit! Ian registrierte diese Tatsache. Allerdings konnte er sich beim besten Willen an niemanden erinnern, der sich damit brüstete, eineiige Drillinge zu haben.
Der ältere Junge rannte die Treppe herunter, und die anderen Kinder stolperten hinter ihm her. Bei genauerer Betrachtung war die Ähnlichkeit mit den Drillingen unverkennbar. „Bitte, Sir“, sagte der ältere Junge, während er vor Ian anhielt. „Meine Brüder wollten Sie nicht ärgern.“ „Nein?“ Mit der Schuhspitze stocherte Ian im dreckigen Schneematsch herum. „Kohlenstaub! Drei oder vier Steinchen. Eisklumpen.“ Er bückte sich, nahm einen fast zylindrisch geformten Gegenstand an sich und ließ ihn zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln. „Ein Apfelgriebs? Ich würde sagen, dieses Zeug könnte am Kopf eines Menschen etlichen Schaden anrichten. Ganz bestimmt jedoch an seiner Kleidung.“
„Wir haben nicht auf Sie gezielt, Sir“, sagte einer der Drillinge. „Wir haben Sie für Mr. Winston gehalten.“
Mit großer Mühe unterdrückte Ian ein Lächeln. „Ich nehme an, er ist bei euch nicht sehr beliebt.“
„Er gafft Lissy an“, murmelte der ältere Junge.
Ian zog das Taschentuch hervor und wischte sich die Hände ab. „Wer ist sie?“
„Unsere Schwester“, antwortete einer der Drillinge.
„Ich verstehe.“ Vier Söhne und eine Tochter. Lord X hatte eine ziemlich große Familie, die er versorgen musste. „Nun, dem Himmel sei Dank, dass ich nicht Mr. Winston bin und ihr kein Zielwasser getrunken habt.“
„Es tut uns wirklich Leid, Sir“, sagte der ältere Junge reumütig. „Im Allgemeinen tun wir so etwas nicht. Hätten wir nicht den Mann von der Zeitung erwartet..."
„Ich bin an seiner Stelle hier“, warf Ian ein.
„Dann sind Sie ebenfalls Schriftsteller?“ fragte einer der Drillinge.
„So würde ich es nicht nennen.“ Unerklärlicherweise widerstrebte es Ian, das Kind zu belügen. „Eure Schwester ist also Schriftstellerin?“
„Oh ja! Sie schreibt alles Mögliche“, antwortete der Drilling eifrig. „Aber . . .“
„Sei still!“ fiel der ältere Junge seinem Bruder unwirsch ins Wort. Dann starrte er Ian an. „Ich habe gemerkt, dass Sie kein Schriftsteller sind.“
„Ach ja?“
„Schriftsteller haben immer Tintenflecke an den Fingern. Bei Ihnen ist das nicht der Fall.“
Mit geheucheltem Ernst betrachtete Ian seine Finger. „Ich glaube, du hast Recht.“
„Lissy hat
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