096 - Der grüne Leichnam
Hekates Züge waren angespannt. Mit beiden Händen umklammerte sie die magische Kugel, mit deren Hilfe sie sich mit verschiedenen Sippen der Schwarzen Familie in Verbindung setzen konnte. Die Kugel leuchtete giftgrün. Sie war die einzige Lichtquelle in dem düsteren Raum.
„Ich rufe dich, Marcel d'Arcy", sagte Hekate laut. „Marcel d'Arcy, melde dich!"
Die magische Kugel pulsierte stärker. Das grüne Licht erlosch; die Kugel wurde milchig und dann durchscheinend. Sekunden später war ein Gesicht zu sehen. Es war knochig. Die dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, der Schädel war völlig glatt rasiert.
„Marcel d'Arcy", flüsterte Hekate, „wie ist die Entscheidung deiner Sippe?"
D'Arcy öffnete den blutleeren Mund und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
„Unser Entschluß steht fest, Hekate", sagte das Oberhaupt der mächtigen französischen Sippe. „Wir helfen dir nicht. Wir brauchen einen starken Fürsten der Finsternis, du aber bist schwach und unfähig." D'Arcy verzog den Mund verächtlich. „Luguri ist ein Führer ganz nach unserem Geschmack. Er wird dem Bösen zum Durchbruch verhelfen. Er hat die Familie aufgerüttelt. Deine Tage sind gezählt, Hekate."
Hekate nahm die Hände von der Kugel, und Marcel d'Arcys Gesicht löste sich auf.
Wütend sprang Hekate auf. Mit beiden Händen schob sie das lange, flammendrote Haar aus dem Gesicht und warf es über ihre schmalen Schultern. Ihr Gesicht war ein bleiches Oval, in dem die grünen Augen wie strahlende Edelsteine leuchteten. Sie trug ein hautenges, grünes Kleid, das die Sinnlichkeit ihres aufreizenden Körpers unterstrich.
Ihr Versuch, sich einige Verbündete zu sichern, war kläglich gescheitert. Den ganzen Tag über hatte sie sich mit verschiedenen Sippen in Verbindung gesetzt. Sie hatte sich Gewißheit verschaffen wollen, welche Sippen ihr helfen würden. Doch das Ergebnis war erschütternd gewesen. Nicht eine einzige Sippe stand hinter ihr.
Erregt lief sie im Zimmer auf und ab. Dabei ballte sie die Hände zu Fäusten. Offiziell war sie noch immer die Herrin der Schwarzen Familie. Aber wie lange noch?
Ihre Position war nie besonders stark gewesen. Sie hatte nur wenige Freunde und Verbündete gehabt; die meisten Sippen hatten sich neutral verhalten; und es war ihr nicht gelungen, sich beliebter zu machen. Zu viele Niederlagen hatte sie im Kampf gegen Hermes Trismegistos und den Dämonenkiller einstecken müssen. Und der Anfang vom Ende war Luguris Erweckung gewesen. Sie hatte sich dagegengestemmt, doch ihr war keine andere Wahl geblieben; sie hatte dem Drängen der Sippen nachgeben müssen.
Luguri hatte sofort die Initiative ergriffen und einige Beweise seiner Macht geliefert. Nur zu deutlich erinnerte sich Hekate an Luguris Wüten im „Atlantic Palace Hotel" in New York; und von Tag zu Tag hatte Luguri immer mehr von seinen gewaltigen magischen Fähigkeiten zurückerhalten; er, der seit Jahrtausenden in einem Dolmengrab gefangen gewesen war, hatte sich rasch an die neuen Zeiten angepaßt.
Ein spöttisches Lachen ließ Hekate herumfahren. Die magische Kugel änderte die Farbe. Sie strahlte nun dunkelrot und schien zu wachsen. Das Lachen wurde lauter. Ein greller Blitz schoß aus der Kugel, raste auf Hekate zu und hüllte sie ein. Unsichtbare Fesseln umschlangen ihren Leib. Hekate versuchte einen Gegenzauber, aber vergeblich. Spinnenfinger mit langen Krallen ragten plötzlich aus der magischen Kugel. Ein dürrer Arm folgte.
„Luguri", flüsterte Hekate mit versagender Stimme.
Sekunden später stand der Erzdämon vor ihr. Er war groß und knochig. Sein dünner Körper wurde von einem enganliegenden Mantel verhüllt. Der schmale Schädel war haarlos, die glühenden Froschaugen lagen in tiefen Höhlen; der v-förmige Mund war zu einem teuflischen Grinsen verzogen.
„Ja, ich bin es, Hekate", sagte Luguri mit Donnerstimme. „Es war für mich äußerst amüsant, mitzuverfolgen, wie du einige Sippen um Hilfe angewinselt hast. Deine Herrschaft war nur von kurzer Dauer."
Er blickte sie gnadenlos an.
Hekate versuchte sich zu bewegen, doch die unsichtbaren Fesseln verhinderten es.
„Was hast du vor, Luguri?" fragte sie.
Der Erzdämon kam näher.
„Ich könnte dich sofort töten, Hekate", sagte er grinsend, „oder dich in einen Freak verwandeln. Aber das will ich nicht. Ich bin bereit, dir eine letzte Chance zu geben, Hekate."
„Und die ist?"
„Ich habe dich mit einem Zauber belegt, Hekate. Du hast nichts davon gemerkt, was
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