Der Verdacht
der Zeiger in ihm aufstieg: «Jetzt wollen Sie Ihr Kredo herunterleiern. Es ist seltsam, daß auch Massenmörder ein solches haben.»
«Es ist fünf vor halb zwölf», entgegnete Emmenberger.
«Wie freundlich, mich daran zu erinnern», stöhnte der Alte, zitternd vor Zorn und Ohnmacht.
«Der Mensch, was ist der Mensch?» lachte der Arzt. «Ich schäme mich nicht, ein Kredo zu haben, ich schweige nicht, wie Sie geschwiegen haben. Wie die Christen an drei Dinge glauben, die nur ein Ding sind, an die Dreieinigkeit, so glaube ich an zwei Dinge, die doch ein und dasselbe sind, daß etwas ist und daß ich bin. Ich glaube an die Materie, die gleichzeitig Kraft und Masse ist, ein unvorstellbares All und eine Kugel, die man umschreiten kann, abtasten wie einen Kinderball, auf der wir leben und durch die abenteuerliche Leere des Raums fahren; ich glaube an eine Materie (wie schäbig und leer ist es daneben, zu sagen: ‹Ich glaube an einen Gott›), die greifbar als Tier, als Pflanze oder als Kohle und ungreifbar, kaum berechenbar, als Atom ist; die keinen Gott braucht, oder was man auch immer hinzuerfindet, deren einziges unbegreifliches Mysterium ihr Sein ist. Und ich glaube, daß ich bin, als ein Teil dieser Materie, Atom, Kraft, Masse, Molekül wie Sie, und daß mir meine Existenz das Recht gibt, zu tun, was ich will. Ich bin als Teil nur ein Augenblick, nur Zufall, wie das Leben in dieser ungeheuren Welt nur eine ihrer unermeßlichen Möglichkeiten ist, ebenso Zufall wie ich – die Erde etwas näher bei der Sonne, und es wäre kein Leben –, und mein Sinn besteht darin, nur Augenblick zu sein. O die gewaltige Nacht, da ich dies begriff! Nichts ist heilig als die Materie: der Mensch, das Tier, die Pflanze, der Mond, die Milchstraße, was auch immer ich sehe, sind zufällige Gruppierungen, Unwesentlichkeiten, wie der Schaum oder die Welle des Wassers etwas Unwesentliches sind: es ist gleichgültig, ob die Dinge sind oder nicht sind; sie sind austauschbar. Wenn sie nicht sind, gibt es etwas anderes, wenn auf diesem Planeten das Leben erlischt, kommt es, irgendwo im Weltall, auf einem anderen Planeten hervor: wie das große Los immer einmal kommt, zufällig, durch das Gesetz der großen Zahl. Es ist lächerlich, dem Menschen Dauer zu geben, denn es wird immer nur die Illusion einer Dauer sein, Systeme an Macht zu erfinden, um einige Jahre an der Spitze irgendeines Staates oder irgendeiner Kirche zu vegetieren. Es ist unsinnig in einer Welt, die ihrer Struktur nach eine Lotterie ist, nach dem Wohl der Menschen zu trachten, als ob es einen Sinn hätte, wenn jedes Los einen Rappen gewinnt und nicht die meisten nichts, wie wenn es eine andere Sehnsucht gäbe als nur die, einmal dieser einzelne, einzige, dieser Ungerechte zu sein, der das Los gewann. Es ist Unsinn, an die Materie zu glauben und zugleich an einen Humanismus, man kann nur an die Materie glauben und an das Ich. Es gibt keine Gerechtigkeit – wie könnte die Materie gerecht sein –, es gibt nur die Freiheit, die nicht verdient werden kann – da müßte es eine Gerechtigkeit geben –, die nicht gegeben werden kann – wer könnte sie geben sondern die man sich nehmen muß. Die Freiheit ist der Mut zum Verbrechen, weil sie selbst ein Verbrechen ist.»
«Ich verstehe», rief der Kommissär, zusammengekrümmt, ein verendendes Tier, auf seinem weißen Laken liegend wie am Rande einer endlosen, gleichgültigen Straße. «Sie glauben an nichts als an das Recht, den Menschen zu foltern!»
«Bravo», antwortete der Arzt und klatschte in die Hände. «Bravo! Das nenne ich einen guten Schüler, der es wagt, jenen Schluß zu ziehen, nach dem ich lebe. Bravo, bravo.» (Immer wieder klatschte er in die Hände.) «Ich wagte es, ich selbst zu sein und nichts außerdem, ich gab mich dem hin, was mich frei machte, dem Mord und der Folter; denn wenn ich einen anderen Menschen töte – und ich werde es um sieben wieder tun –, wenn ich mich außerhalb jeder Menschenordnung stelle, die unsere Schwäche errichtete, werde ich frei, werde ich nichts als ein Augenblick, aber was für ein Augenblick! An Intensität gleich ungeheuer wie die Materie, gleich mächtig wie sie, gleich unberechtigt wie sie, und in den Schreien und in der Qual, die mir aus den geöffneten Mündern und aus den gläsernen Augen entgegenschlägt, über die ich mich bücke, in diesem zitternden, ohnmächtigen, weißen Fleisch unter meinem Messer spiegelt sich mein Triumph und meine Freiheit und nichts
Weitere Kostenlose Bücher