Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
und er wich unbeobachtet einige Schritte aus dem Hof ins Dunkel, um ungestört ebenso dunklen Gedanken nachzuhängen.
Auch wenn er sich als Kind gern in die Werkstatt geschlichen und den Erwachsenen bei ihrer Arbeit zugesehen oder sich heimlich auf den Lagerböden herumgetrieben hatte, so war die frühe Verzauberung längst einem dumpfen Gefühl des milden Schreckens gewichen. Die Vorstellung, sein Lebtag in der Brochwerkstatt eingesperrt zu sein und Leim zu schlagen oder Tinte zu rühren oder Papier zu schöpfen oder Bücher zu binden oder Nähte zu setzen oder, was auch immer zu tun sein mochte, zu verrichten – allein der Gedanke ließ ihn frösteln.
Die Aussicht, ein Tintner zu werden, selbst der vielleicht berühmteste Tintner des Hüggellandes, hatte im Laufe der Jahre für Finn jeden Reiz verloren. Denn es war nicht das Herstellen von Büchern, das Anfertigen von Federn und Tinte oder sonstigem Schrifferbedarf, das ihn begeisterte. Nein, es waren die Buchstaben, die man in die noch jungfräulichen Bücher hineinschreiben konnte. Nichts in der Welt fesselte Finn darum so sehr wie ein Besuch in der Bücherey zu Mechellinde. Wie gern roch er den Duft der altehrwürdigen Lederrücken, nahm er den Dunst aus abertausenden von geheimnisvollen Seiten und einer dahinter zu ahnenden, fast verwehten Geschichte wahr, ja, er atmete selbst den Staub, der an den Schriftrollen und deren Abschriften, den Colpianten, haftete, mit fast sinnlichem Behagen ein. Eines Tages ein solches Werk eigenhändig zu verfassen, das würde ihm mehr bedeuten als die tausende an leeren Büchern, die er im Laufe eines Tintnerlebens binden mochte. Er wollte keine Federn schneiden, er wollte mit ihnen schreiben; er wollte keine Tinte rühren, er wollte mit ihr Seite um Seite füllen, wollte aus Buchstaben Worte formen, aus Worten Sinnhaftes, vielleicht gar Bedeutsames gleichsam herausmeißeln. Einem Bildhauer wollte Finn es gleichtun, der dem Stein seine Form entlockte, indem er alles Irreführende und Überflüssigewegnahm und das stehen ließ, was Aussage und Kraft, was Inhalt und Wissen, was Schönheit und Anmut besaß.
Doch wie sollte, wie konnte er ein Schriffer werden? Wie würde er die Zeit dazu finden, ein Buch zu schreiben, wenn er hier in Moorreet von früh bis spät Gänse- und Rabenfedern sortierte und Leder beschnitt und Verziernägel setzte? Wenn er wenigstens in der Bücherey hätte arbeiten können, als Buoggir, wie die Mitglieder der Büchereygilde genannt wurden, vielleicht als Staubner gar? Oder wenigstens in der Colpia, wo die Abschriften angefertigt wurden und er in alten Büchern würde stöbern dürfen?
»Ich bin zu weich, zu gutmütig, das ist es!«, schalt er sich. Er hatte nie den Mut gefunden, ein offenes Wort mit seinem Vater zu sprechen, hatte ihm nie von seinen innigsten Wünschen erzählt. Denn Finn war sich einer Tatsache nur zu bewusst: Außer ihm gab es keinen Erben für Fokklinhand. Und er ahnte, nein, er wusste nur zu gut, dass die Enttäuschung seines Vaters Herz bräche. Furgos Lebenswerk, sein Lebenssinn wäre mit einem Schlag entwertet, erführe er, wohin die Gedanken seines einzigen Sohnes gingen, wo seine wahren Wünsche hingen. »Ach, es ist wie verhext!«, rief er noch einmal in die Dunkelheit hinein.
Irgendwo im nahen Dickicht krächzten Raben, als gäben sie eine Antwort.
»Warum sagst du das?«, fragte eine Stimme neben ihm, und Finn erschrak heftig.
»Du liebe Güte – du bist es«, murmelte er erleichtert, als er seine Mutter erkannte. Sie trug einen Schal um die Schultern und tat so, als habe sie nicht nach ihm gesucht. Hinter ihr spielte die Musik einen Taumlertanz, und Gekreisch und Gejohle erfüllte die Nacht.
»Was ist wie verhext, Finn?«
»Es ist … nichts.«
Amafilia legte den Arm um seine Schulter und meinte: »Da bin ich aber froh. Zumal du es in deinem Alter inzwischen wissen solltest, mein Junge: Hexerei kommt nur in den Kindermärchen vor. Bei den Feen in Angellin, wie du dich bestimmt erinnerst; abernicht in unserer Welt, nicht hier bei uns. Also kann auch nichts wie verhext sein, eben weil es Hexerei an sich nicht gibt.« Sie lachte über ihre eigene Beweisführung und gab ihm einen Rippenstoß. »Nun komm schon. Es ist schließlich deine Feier. Wenigstens einmal solltest du tanzen. Die Mädchen werfen dir alle schon heimliche Blicke zu. Immerhin bist du eine gute Partie!«
»Bitte, Mama, lass das doch.«
»Nur wenn du einmal tanzt.«
Finn seufzte und zeigte
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