Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
das hat ein jeder hier begriffen. Und ich kann nur hoffen, sie willigen in meine Bitte ein.«
»Willst du eigentlich eigenhändig in jedes Regal greifen? Jeden Buchrücken einzeln herumdrehen?«, fragte Finn.
»Ja, das heißt, ich hoffe, dein Angebot von gestern gilt noch, und du hilfst mir wie versprochen beim Suchen.«
»Ja, es gilt noch«, bestätigte Finn. »Natürlich. Nur – hast du eine Vorstellung davon, was da auf uns zukommt? Ich meine, wir werden das alles lesen müssen, und vielleicht haben wir nur einen oder zwei Tage Zeit dafür, ehe … na, du weißt schon. Und wenn wir hier nichts finden, werden wir nach Sturzbach oder gar bis nach Vahindema reisen müssen, und beides liegt nicht gerade um die Ecke. Was noch mehr Zeit kostet, die wir vermutlich nicht haben.«
Kampo Rohrsang wechselte einen Blick mit seinem älteren Bruder, ehe er sich vorbeugte und sagte:
»Falls du zusätzliche Augen brauchst zum Lesen, Herr Mönch, dann haben Sahaso und ich immerhin zwei Paar zu bieten. Sie haben derweil sowieso nichts Vernünftiges zu tun. Wir können beide so gut schreiben und lesen wie jeder Vahit, und wenn du einverstanden bist …?«
»Ich danke euch«, sagte Circendil und ergriff ihre Hände. Sie konnten deutlich sehen, wie er sich über Kampos Worte freute. »Nur will ich noch nichts planen, ehe wir nicht wissen, wie die Entscheidung eurer Schöffen lautet.«
Er blickte sich zu den Genannten um, und als hätten sie eigensdarauf gewartet, kehrten die drei älteren Vahits zum Podest und ihren Stühlen zurück.
Auch alle anderen setzten sich wieder und machten erwartungsvolle Gesichter. Tallia Goldammer ergriff erneut ihre Feder und nickte zu etwas, das ihr Frau Amagata zuflüsterte. Sie warf Finn einen raschen Blick zu und beugte sich dann über ihr Tintenfässchen.
Über all dem war es später Nachmittag geworden. Die Sonne stand inzwischen fast über dem Gästehaus und wanderte unmerklich weiter nach Westen. Ein Eichelhäher flatterte ins Geäst der Linde und krächzte laut, als wolle er die Welt vor dem warnen, was gleich gesagt werden würde. Dann schwirrte er auf und segelte eilig davon, und sein braun-blaues Federkleid blitzte im Sonnenlicht auf, ehe er verschwand. Nur der Wind blieb zurück und ließ die Blätter rascheln.
»Nehmt dies als Zeichen!«, sagte Herr Wredian und deutete dem Häher hinterher. »Wie froh wären wir, könnten wir alle dem Beispiel dieses Vogels folgen – nach erteilter Warnung unsere Schwingen ausbreiten und fliehen. Nur sind uns keine Flügel gewachsen, und wir können nicht fliehen, wie wir erkennen mussten. Unser Schicksal ist es, hier zu stehen und zu bestehen, was immer auch sonst geschehen mag!«
Er machte eine Pause und blickte jeden Anwesenden nachdrücklich an, während er sich auf die Unterlippe biss. Schließlich gab er sich einen Ruck, straffte seinen Rücken und nickte grimmig.
»Da sind wir also. Kommen wir damit zurück zu der Frage, zu deren Beantwortung wir uns heute versammelt haben. Was können wir tun?
Wir haben erfahren: Wir sind nicht völlig hilflos. Das ist ein Trost, wenn auch ein geringer. Herr Circendil hat uns aufgezeigt, dass und wie wir uns wehren können. Ich selbst hatte bis zum Mittag für meinen Teil gehofft, wir könnten ihn zum Hauptmann unserer Vahitwehr ernennen, weil er ein Máhir des Kampfes ist. Er würde stets wissen, was zu tun ist, wenn der Angriff des Feindeserst beginnt. Nun, hoffen darf man immer. Aber nach dem, was wir danach von ihm erfuhren, weiß ich, dass diese Pflicht uns auferlegt ist. So schwer sie uns auch fallen mag. Die Aufgabe unseres Freundes aus dem fernen Vindland ist eine ganz und gar andere. Er sagt, sie ist ebenso wichtig wie oder noch wichtiger als die Verteidigung unserer Heimat. Dem ist entweder so, oder es wird sich als falsch erweisen. Ich vermag es nicht zu unterscheiden. Aber ich weiß: Das Hüggelland ist nun einmal unsere Angelegenheit, und es ist folglich unsere Sorge, dafür einzustehen. Andererseits hat sich Herr Circendil als treuer Freund der Vahits erwiesen. Wie können wir ihm da seine Bitte abschlagen? Wir wollen ihm gewähren, was er begehrt. So höret meine Worte:
Hiermit wird Herrn Circendil, Ordensmann zu Daven, Sendbote des Königs von Vindland und Verbündeter im Kampf gegen den Feind aus Ulúrlim, das Recht und die Erlaubnis erteilt, in allen drei Büchereyen nach Belieben ein und aus zu gehen und ein jedes dort einliegende Werk nach seinem Gutdünken zu untersuchen,
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