Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
Gahadwaine. Diese Sprache wurde noch lange, wenn auch in sich allmählich wandelnder Form, von den Menschen Gahans gesprochen, wenngleich sie selbst weitaus älter ist. Ihre Urform ist das Benutcaneische, Caeredwaine , die Sprache des untergegangenen Reiches von Benutcane.
Schon zu Cethlions Lebzeiten – etwa dreihundert Jahre nach Finnig Fokklins Erlebnissen und damit rund eintausend Jahre nach dem Zusammenbruch des Reiches – erinnerten sich die Menschen nur noch schwach an Benutcane und schon fast gar nicht mehr an die Aufgabe, die diesem mächtigen Reich einst auferlegt worden war.
Selbst der Ort, an dem sich einst die stolzen Türme Caras Benutcaers in den Himmel gereckt hatten, war vergessen. Von Gahan aus gesehen vermutete man es weit im Westen, jenseits des Ozeans, den man das Nebelmeer nannte. Aber Schiffe, die das trennende Meer noch hätten überqueren können, gab es nach dem Ende des Gilwenkrieges nicht mehr. Doch selbst, wenn es sie gegeben und man sie ausgeschickt hätte, um nachzusehen, so wären ihre Mannen enttäuscht zurückgekehrt. Denn die damals besiedelten Lande waren bis auf wenige Reste verloren: hinweggerafft von Lukathers Wut, als er die Feuer Kringerdes weckte und himmelhohe Wellen alles vernichteten. Nur noch die höchsten Bergspitzen ragten als Inseln aus den Wassern auf; alles andere war für immer im Meer versunkenund mit ihm die letzten Zeugnisse Benutcanes, des Steingewordenen Bundes .
Ohne Finnig Fokklins Bericht wären die Benutcaerdirin nicht nur fast, sondern völlig vergessen gewesen, verloren im Nebel der Zeit. Allein durch seine Zeilen erfahren wir etwas über die Alten Herren des Steins. Es ist eine Ironie des Schicksals, dem guten Finn unter anderem diese Aufgabe aufzuerlegen; denn er selbst lernte das meiste über die Benutcaerdirin höchst widerwillig und unter der strengen Aufsicht seines Lehrers – – in der Schule, in der Gwaendia der ehrwürdigen Bücherey zu Mechellinde, siebenhundert Jahre nach dem Zerfall des Bundes.
So erfahren wir immerhin dies: Caras Benutcaer lag in Aren; die Stadt gehörte somit jenem Kontinent an, der von den Benutcaerdirin selbst Kolryn genannt wurde: etwa »dichter, unwegsamer Wald«. Und ihre Bewohner waren meistenteils Arendirin, das als Baum- oder Waldmenschen bekannte Volk; aber es gab auch einige Stämme der Vindirin, der Lehm- oder Ackermenschen, die, wenn man den Überlieferungen glauben darf, gleichfalls in Aren lebten und die sich mit den Arendirin vermischten, obgleich ein Makel damit einherging, wie sich später zeigen sollte.
Caras Benutcaer wurde im sogenannten Zweiten Zeitalter gegründet (deren es fünf gab und die zusammen die Gilwenzeit ausmachten). Im 853. Jahr seines Bestehens zerfiel das Reich, ein 49-jähriger Bürgerkrieg folgte, ehe im Jahr 902 des Zweiten Zeitalters die Dreiteiligkeit zur Gründung der drei kolrynischen Königreiche Arelian, Revinore und Vindland führte. Mit der Dreiteiligkeit begann eine abermalige Neuzählung, die man »nach der Dreiteiligkeit« (n. d. D.) nannte. Es ist Zufall (falls es ihn denn gibt), dass diese Jahre auch als das Dritte Zeitalter bezeichnet wurden.
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Der Wicht aus Moorreet ist im wesentlichen Finnig Fokklins eigener Bericht von den letzten Tagen dieses Dritten Zeitalters, denn die Ereignisse nehmen ihren Beginn mit dem 2. Oktober des Jahres 710 n. d. D., und das Dritte Zeitalter sollte da nur noch zwei Jahre überdauern. Finnig schrieb seine Erlebnisse in späteren Jahren nieder, als er in der noch jungen Stadt Caras Gahawya den Neuanfang der aus Kolryn glücklich Entkommenen miterlebte. Er verfasste seinen Bericht auf die Bitte des Menschenkönigs Alereos hin, und sein Buch wurde später, zusammen mit Bran Barensons Bericht über dessen eigene Reise nach Rudgard, der Kolrydanaë beigefügt; einem Werk, das Tanadil der Feinhändige ebenfalls im Auftrag des ersten Königs von Gahawya begann. Etliche Abschriften sind später in Caras Gahawya, aber auch in Oh’L und Daelbheragan aufbewahrt worden, und manche von ihnen wurden rechtzeitig übersetzt, ehe Caeredwaine, die benutcaneische Sprache, in Vergessenheit geriet.
Die vollständigste und am besten erhalten gebliebene Abschrift der Malonië Fokklinaë – jenes Teils der Kolrydanaë, der hier als »Der vergessene Turm« und »Der verlorene Brief« wiedergegeben ist – ist die sogenannte Cethlion-Handschrift. Cethlion nahm sich der dankenswerten Aufgabe an, Finnig Fokklins Bericht
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