Der verlorne Sohn
Tochter. Diese Letztere kann ich mit weniger Gefahr sehen und sprechen, da man nicht glaubt, daß ich mich in die Wohnung des Staatsanwaltes wagen werde.«
»Aber diese Verhältnisse können doch nicht so fortdauern. Sie können doch nicht für immer von den Ihrigen getrennt sein. Das versteht sich ja ganz von selbst.«
»Natürlich! Ich warte nur, bis meine Tochter den Dienst verläßt. Sie hat bereits gekündigt. Dann verschwinden wir.«
»Wohin?«
»Ueber die Grenze hinüber.«
»Man wird Sie ergreifen.«
»Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Die Hauptsache ist, daß ich bis dahin einen sicheren Ort habe, wo ich nicht entdeckt werden kann.«
»Ich denke, den haben Sie hier?«
»Leider nicht. Für zwei oder drei Tage geht es, aber doch länger nicht. Die Verhältnisse sind hier so, daß sich unter zehn Personen, denen man des Abends begegnet, neun heimliche Polizisten befinden. Auch draußen auf dem Lande bin ich nicht mehr sicher. Es kam heute eine Zeitung in meine Hand. Und was fand ich da? Meinen Steckbrief nebst dem ausführlichsten Signalement.«
»So machen Sie schleunigst sich aus dem Staube. Ihre Frau und Tochter können ja nachkommen. Geld zur Flucht haben Sie ja genug.«
»Ja, das habe ich freilich,« antwortete er, mit der rechten Hand nach der linken Brusttasche greifend. »Aber Geld allein thut es nicht. Klugheit ist hier wenigstens ebensoviel werth wie Geld. Um mich ist es mir nicht bange. Ich kann sehr leicht für immer verschwinden. Aber meine beiden Frauenzimmer sind zu dumm und unerfahren. Wenn sie mir nachkommen wollen, wird es der Polizei sehr leicht sein, ihnen heimlich zu folgen und mich also dann zu finden. Darum muß ich selbst dabei sein, wenn sie die Stadt und das Land verlassen. Ich bin ihnen nothwendig, wenn sie keine Spuren zurücklassen sollen. Darum handelt es sich um ein Asyl für mich.«
»Auf wie lange?«
»Nur zwei Wochen. Dann zieht meine Tochter ab.«
»Haben Sie denn keine Aussicht, ein Versteck zu finden?«
»Ich habe schon an Verschiedenes gedacht, aber noch nichts ganz Sicheres gefunden.«
Vorhin, als er mit der Hand an die Brusttasche gegriffen, hatte die Tochter ihren Vater angestoßen. Er hatte durch diese unbewachte Bewegung verrathen, daß er das Geld bei sich trage. Darum meinte jetzt Theodolinde in nachdenklichem Tone: »Hm! Das ist schlimm. Sie werden zwar für das, was Sie für uns thun, von uns bezahlt, aber es ist mir dennoch, also ob wir Ihnen Dank schuldig seien. Ich habe da einen Gedanken. Wenn ich wüßte –«
»Was?« fragte er schnell.
»Es ist nur zu gefährlich!«
»Was soll gefährlich sein? Meinen Sie etwa wegen eines Verstecks für mich?«
»Ja.«
»Wissen Sie vielleicht einen guten Ort?«
»Ich weiß einen; aber man soll niemals einem Menschen mehr Vertrauen schenken, als unumgänglich nöthig ist.«
»Das ist sehr aufrichtig, gnädiges Fräulein! Das muß ich sagen! Ich begebe mich Ihretwegen in so große Gefahr, und Sie meinen, daß Sie mir nicht trauen dürfen.«
»Nicht zu viel Vertrauen, habe ich gesagt. Uebrigens wollte ich mich anders ausdrücken. Ich hatte die Absicht, zu sagen, daß man sich nicht in zu große Gefahr begeben soll.«
»Welche Gefahr meinen Sie denn?«
»Die Gefahr, daß Sie unvorsichtig sind und dann entdeckt werden.«
»Was kann das Sie angehen?«
»Uns? Sehr viel! Wenn Sie bei uns erwischt werden, wird man sich unserer natürlich auch versichern.«
»Bei Ihnen erwischt?« fragte er. »Das klingt ja geradeso, als ob ich mich bei Ihnen verstecken solle!«
»Ja, daran dachte ich eben.«
»Ah! Sie wollten mir ein Asyl bieten? Das wäre freilich äußerst vortheilhaft für mich. Bei Ihnen kann mich ja kein Mensch suchen. Niemand hat einen Grund, zu ahnen, daß ich Ihnen bekannt bin, und noch dazu in der Weise bekannt, daß sie mir ein Versteck bieten.«
»Nun ja. Eben diese Erwägung brachte mich auf den Gedanken, Ihnen zu sagen, daß Sie bei uns bleiben möchten. Was meinst Du dazu, Vater?«
»Hm! Es geht nicht,« antwortete der Gefragte.
»Warum nicht?«
»Bedenke zunächst: Ein Freiherr und ein steckbrieflich Verfolgter! Es ist undenkbar!«
»Gerade weil es undenkbar ist, wird man ihn nicht bei uns suchen!«
»Er wird aber bei uns gesehen werden.«
»Wieso?«
»Nun, man sieht ihn doch kommen!«
»Nein. Er muß des Abends kommen, wenn es finster ist. Wir selbst lassen ihn ein.«
»Die Dienerschaft wird ihn doch bemerken. Er hat ja seine Bedürfnisse. Er will verpflegt sein.«
»Wir
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