Der Vierte Tag
vielleicht übersehen hatten, drohte, war es seinerzeit zum Streit gekommen, wer vom Personal Silvester in der Klinik verbringen müsse. Und da wir uns nicht einigen konnten, beziehungsweise es schien, als beträfe das Problem potentiell sowieso fast jeden, hatte jemand vorgeschlagen, wir könnten doch einfach gemeinsam in der Klinik feiern und beobachten, wie am 1. Januar 2000 um null Uhr die Welt zusammenbricht.
Nichts dergleichen war geschehen, aber es wurde trotzdem ein lustiges Fest. Und da unser ehemaliger Wirtschaftstrakt nach dem Outsourcing von Wäscherei, Patienten- und Personalverpflegung ohnehin leerstand, hatten wir ihn mit dieser Nacht als großen Partykeller in Besitz genommen. Komplett mit Tischtennisplatte, Kickerspiel und einer Art Bar. Dr. Valenta von der Intensivstation hatte sogar einen ausgedienten Flipperautomaten organisiert und veranstaltet regelmäßige Turniere. Er besteht allerdings darauf, daß dabei um Geld gespielt wird – er ist uns im Flippern weit überlegen.
In der Winterluft um mich herum schwebte noch ein diskreter Duftrest von Schwester Renate, und ich hatte vorerst keine Lust, mich wieder unter die rauchfreie Silvestergemeinde zu mischen. Irgendein Raucher würde mir schon noch Gesellschaft leisten. Natürlich waren im Grund alle froh, daß sie nicht zu Hause für die obligatorische lustig ausgelassene Silvesterstimmung sorgen mußten, aber man kann andererseits zu Silvester kaum seine Kleinfamilie alleine zu Hause sitzen lassen.
Also ist unser Kliniksilvester keine um bunte Papierschlangen, selbstgemachte Salate und reichlich Alkohol erweiterte Personalversammlung, sondern eine Veranstaltung, an der die Familien unserer Mitarbeiter teilnehmen. Sie dürfen sich den ganzen Abend lustige Klinikgeschichten anhören und jedes Silvester aufs neue entsetzt sein, wie anhaltend wir immer wieder über »die blödeste Fehldiagnose des Jahres« oder »die unnötigste OP des Jahres« lachen können und daß auch ein Arzt durchaus zwischen hübschen und weniger hübschen Patientinnen zu unterscheiden vermag.
In meinem Rücken ging die Tür auf, gedämpftes Lachen drang in die Nacht. Dann hielten mir warme Hände die Augen zu, und ein gut bekannter Körper schmiegte sich an mich.
»Endlich, Marlies, warum hast du mich so lange warten lassen? Oder bist du es, Sieglinde?«
»Hat Sexy-Renate dir nicht gereicht?«
»Du weißt, wie sehr ich Liebe brauche. Ich rede nicht gerne davon, aber Celine ist frigide.«
Ich bekam einen Tritt gegen das linke Schienbein.
»Der einzige, der hier kalt ist, bist du!«
Meine Freundin Celine nahm ihre Hände von meinen Augen, drückte meine Zigarette aus und gab mir einen Kuß. Aber nur einen kurzen.
»Ich kann es spüren – du hast Renate geküßt!«
Auch das rechte Schienbein bekam seinen Tritt. Wahrscheinlich hatte Celine es nicht gespürt, aber geschmeckt. Schwester Renate benutzt diese Lippenstifte mit Geschmack. Heute war es, glaube ich, Pfirsich-Maracuja gewesen.
»Das stimmt nicht. Ich habe sie nicht geküßt. Sie hat mich geküßt. Ich konnte mich nicht wehren, keine Chance. Ich bin das Opfer!«
Es mag ja stimmen, daß das Rauchen lebensverkürzend ist, aber in diesem Augenblick hat es mir das Leben gerettet – wieder öffnete sich die Tür, ein paar willensschwache Abhängige stolperten zu uns heraus in die Kälte. Und nie würde Celine unter Zeugen morden, dumm ist sie nicht.
»Die letzte für dieses Jahr«, verkündete lallend ein aknepickeliger Teenager mit Flaumbart. Ich hatte ihn schon einmal gesehen, wußte indessen nicht, welchem oder welcher meiner Kollegen ich ihn zuordnen sollte. Aber Raucher sind gesellige Menschen, also zündete ich mir noch eine an.
Die letzte bis zum nächsten Silvester, hoffte ich.
Piep – piep – piep – piep – ich war noch nicht ganz damit durch, auch den mir zum großen Teil vollkommen fremden Angehörigen meiner Kollegen ein glückliches neues Jahr zu wünschen, als mein Notrufempfänger Alarm gab. Er zeigte die Station C4 als Auslöser des Alarms an. Meine Station. Schwester Käthe und Schwester Renate brauchten Hilfe. Unsere neuen Empfänger sind ziemlich schlau: Auf ihrem Display erscheint nicht nur die Station, sondern auch das Zimmer, in dem Hilfe gebraucht wird.
Als ich es nach einem Spurt über das vereiste Klinikgelände leicht hustend in das Zimmer des Privatpatienten Winter geschafft hatte, sah ich Schwester Käthe voll in Aktion. Sie hatte Winter das Brett vom Kopfende unter den
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