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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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was die letzte gehört und gesehen hatte.
    Nur einmal sah Hanna ins Publikum und zu mir hin. Sonst wandte sie den Blick an allen Verhandlungstagen zur Gerichtsbank, wenn sie von einer Wachtmeisterin hereingeführt wurde und wenn sie ihren Platz eingenommen hatte. Das wirkte hochmütig, und hochmütig wirkte auch, daß sie nicht mit den anderen Angeklagten und kaum mit ihrem Anwalt sprach. Die anderen Angeklagten redeten miteinander allerdings desto weniger, je länger die Gerichtsverhandlung dauerte. Sie standen in den Verhandlungspausen mit Verwandten und Freunden zusammen, winkten und riefen ihnen zu, wenn sie sie morgens im Publikum sahen. Hanna blieb in den Verhandlungspausen an ihrem Platz sitzen.
    So sah ich sie von hinten. Ich sah ihren Kopf, ihren Nacken, ihre Schultern. Ich las ihren Kopf, ihren Nacken, ihre Schultern. Wenn es um sie ging, hielt sie den Kopf besonders hoch. Wenn sie sich ungerecht behandelt, verleumdet, angegriffen fühlte und um eine Erwiderung rang, rollte sie die Schultern nach vorne, und der Nacken schwoll, ließ die Muskelstränge stärker heraus- und hervortreten. Die Erwiderungen mißlangen regelmäßig, und regelmäßig sanken die Schultern herab. Sie zuckte nie mit den Schultern, schüttelte auch nie den Kopf. Sie war zu angespannt, als daß sie sich die Leichtigkeit eines Schulterzuckens oder Kopfschüttelns erlaubt hätte. Sie erlaubte sich auch nicht, den Kopf schief zu halten, sinken zu lassen oder aufzustützen. Sie saß wie gefroren. So sitzen mußte weh tun.
    Manchmal stahlen sich Haarsträhnen aus dem straffen Knoten, kräuselten sich, hingen auf den Nacken herab und strichen im Luftzug über ihn hin. Manchmal trug Hanna ein Kleid, dessen Ausschnitt weit genug war, um das Muttermal an der linken oberen Schulter zu zeigen. Dann erinnerte ich mich, wie ich die Haare von diesem Nacken gepustet und wie ich dieses Muttermal und diesen Nacken geküßt hatte. Aber das Erinnern war ein Registrieren. Ich fühlte nichts.
    Während der wochenlangen Gerichtsverhandlung fühlte ich nichts, war mein Gefühl wie betäubt. Ich provozierte es gelegentlich, stellte mir Hanna bei dem, was ihr vorgeworfen wurde, so deutlich vor, wie ich nur konnte, und auch bei dem, was mir das Haar auf ihrem Nacken und das Muttermal auf ihrer Schulter in Erinnerung riefen. Es war, wie wenn die Hand den Arm kneift, der von der Spritze taub ist. Der Arm weiß nicht, daß er von der Hand gekniffen wird, die Hand weiß, daß sie den Arm kneift, und das Gehirn hält beides im ersten Moment nicht auseinander. Aber im zweiten unterscheidet es wieder genau. Vielleicht hat die Hand so fest gekniffen, daß diese Stelle eine Weile lang blaß ist. Dann kehrt das Blut zurück, und die Stelle kriegt wieder Farbe. Aber das Gefühl kehrt darum noch nicht zurück.
    Wer hatte mir die Spritze gegeben? Ich mir selbst, weil ich es ohne Betäubung nicht ausgehalten hätte? Die Betäubung wirkte nicht nur im Gerichtssaal und nicht nur so, daß ich Hanna erleben konnte, als sei es ein anderer, der sie geliebt und begehrt hatte, jemand, den ich gut kannte, der aber nicht ich war. Ich stand auch bei allem anderen neben mir und sah mir zu, sah mich in der Universität, mit Eltern und Geschwistern, mit den Freunden funktionieren, war aber innerlich nicht beteiligt.
    Nach einer Weile meinte ich, ein ähnliches Betäubtsein auch bei anderen beobachten zu können. Nicht bei den Anwälten, die während der ganzen Verhandlung von derselben polternden, rechthaberischen Streitsucht, pedantischen Schärfe oder auch lärmenden, kaltschnäuzigen Unverschämtheit waren, je nach persönlichem und politischem Temperament. Zwar erschöpfte die Verhandlung sie; am Abend waren sie müder oder auch schriller. Aber über Nacht hatten sie sich wieder aufgeladen oder aufgeblasen und dröhnten und zischten am nächsten Morgen wie am Morgen zuvor. Die Staatsanwälte versuchten mitzuhalten und ebenfalls Tag um Tag denselben kämpferischen Einsatz zu zeigen. Aber es gelang ihnen nicht, zunächst nicht, weil die Gegenstände und die Ergebnisse der Verhandlung sie zu sehr entsetzten, dann, weil die Betäubung zu wirken begann. Am stärksten wirkte sie bei den Richtern und Schöffen. In den ersten Verhandlungswochen nahmen sie die Schrecklichkeiten, die manchmal unter Tränen, manchmal mit versagender Stimme, manchmal gehetzt oder verstört berichtet und bestätigt wurden, mit sichtbarer Erschütterung oder auch mühsamer Fassung zur Kenntnis. Später wurden die

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