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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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präsentierte mich als einen, den nichts berührt, erschüttert, verwirrt. Ich ließ mich auf nichts ein, und ich erinnere mich an einen Lehrer, der das durchschaute, mich darauf ansprach und den ich arrogant abfertigte. Ich erinnere mich auch an Sophie. Bald nachdem Hanna die Stadt verlassen hatte, wurde bei Sophie Tuberkulose diagnostiziert. Sie verbrachte drei Jahre im Sanatorium und kam zurück, als ich gerade Student geworden war. Sie fühlte sich einsam, suchte den Kontakt zu alten Freunden, und ich hatte es nicht schwer, mich in ihr Herz zu drängen. Nachdem wir zusammen geschlafen hatten, merkte sie, daß es mir nicht wirklich um sie zu tun war, und sagte unter Tränen: »Was ist mit dir passiert, was ist mit dir passiert.« Ich erinnere mich an meinen Großvater, der mich bei einem meiner letzten Besuche vor seinem Tod segnen wollte und dem ich erklärte, ich glaube nicht daran und lege darauf keinen Wert. Daß ich mich nach solchem Verhalten damals gut gefühlt haben soll, ist mir schwer vorstellbar. Ich erinnere mich auch daran, daß ich angesichts kleiner Gesten liebevoller Zuwendung einen Kloß im Hals spürte, ob die Gesten mir galten oder jemand anderem. Manchmal genügte eine Szene in einem Film. Dieses Nebeneinander von Kaltschnäuzigkeit und Empfindsamkeit war mir selbst suspekt.

2
     
    Ich sah Hanna im Gerichtssaal wieder.
    Es war nicht der erste KZ -Prozeß und keiner der großen. Der Professor, einer der wenigen, die damals über die Nazi-Vergangenheit und die einschlägigen Gerichtsverfahren arbeiteten, hatte ihn zum Gegenstand eines Seminars gemacht, weil er hoffte, ihn mit Hilfe von Studenten über die ganze Dauer verfolgen und auswerten zu können. Ich weiß nicht mehr, was er überprüfen, bestätigen oder widerlegen wollte. Ich erinnere mich, daß im Seminar über das Verbot rückwirkender Bestrafung diskutiert wurde. Genügt es, daß der Paragraph, nach dem die KZ -Wächter und -Schergen verurteilt werden, schon zur Zeit ihrer Taten im Strafgesetzbuch stand, oder kommt es darauf an, wie er zur Zeit ihrer Taten verstanden und angewandt und daß er damals eben nicht auf sie bezogen wurde? Was ist das Recht? Was im Buch steht oder was in der Gesellschaft tatsächlich durchgesetzt und befolgt wird? Oder ist Recht, was, ob es im Buch steht oder nicht, durchgesetzt und befolgt werden müßte, wenn alles mit rechten Dingen zuginge? Der Professor, ein alter Herr, aus der Emigration zurückgekehrt, aber in der deutschen Rechtswissenschaft ein Außenseiter geblieben, nahm an diesen Diskussionen mit all seiner Gelehrsamkeit und zugleich mit der Distanz dessen teil, der für die Lösung eines Problems nicht mehr auf Gelehrsamkeit setzt. »Sehen Sie sich die Angeklagten an – Sie werden keinen finden, der wirklich meint, er habe damals morden dürfen.«
    Das Seminar begann im Winter, die Gerichtsverhandlung im Frühjahr. Sie zog sich über viele Wochen hin. Verhandelt wurde montags bis donnerstags, und für jeden dieser vier Tage hatte der Professor eine Gruppe von Studenten eingeteilt, die ein wörtliches Protokoll führten. Am Freitag war Seminarsitzung und wurden die Ereignisse der vergangenen Woche aufgearbeitet.
    Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit! Wir Studenten des Seminars sahen uns als Avantgarde der Aufarbeitung. Wir rissen die Fenster auf, ließen die Luft herein, den Wind, der endlich den Staub aufwirbelte, den die Gesellschaft über die Furchtbarkeiten der Vergangenheit hatte sinken lassen. Wir sorgten dafür, daß man atmen und sehen konnte. Auch wir setzten nicht auf juristische Gelehrsamkeit. Daß verurteilt werden müsse, stand für uns fest. Ebenso fest stand für uns, daß es nur vordergründig um die Verurteilung dieses oder jenes KZ -Wächters und -Schergen ging. Die Generation, die sich der Wächter und Schergen bedient oder sie nicht gehindert oder sie nicht wenigstens ausgestoßen hatte, als sie sie nach 1945 hätte ausstoßen können, stand vor Gericht, und wir verurteilten sie in einem Verfahren der Aufarbeitung und Aufklärung zu Scham.
    Unsere Eltern hatten im Dritten Reich ganz verschiedene Rollen gespielt. Manche Väter waren im Krieg gewesen, darunter zwei oder drei Offiziere der Wehrmacht und ein Offizier der Waffen- SS , einige hatten Karrieren in Justiz und Verwaltung gemacht, wir hatten Lehrer und Ärzte unter unseren Eltern, und einer hatte einen Onkel, der hoher Beamter beim Reichsminister des Inneren gewesen war. Ich bin sicher, daß sie, soweit wir sie

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