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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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und dessen man habhaft war, nicht wegen seines Verhaltens in Auschwitz anzuklagen?
    Natürlich hatten die fünf Angeklagten das Lager nicht geführt. Es gab einen Kommandanten, Wachmannschaften und weitere Aufseherinnen. Die meisten Wachmannschaften und Aufseherinnen hatten die Bomben nicht überlebt, die eines Nachts den Zug der Gefangenen nach Westen beendeten. Einige hatten sich in derselben Nacht abgesetzt und waren ebenso unauffindbar wie der Kommandant, der sich schon davongemacht hatte, als der Zug nach Westen aufbrach.
    Von den Gefangenen hatte eigentlich keine die Nacht der Bomben überleben sollen. Aber es gab doch zwei Überlebende, Mutter und Tochter, und die Tochter hatte ein Buch über das Lager und den Zug nach Westen geschrieben und in Amerika veröffentlicht. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten nicht nur die fünf Angeklagten, sondern auch einige Zeugen aufgespürt, die in dem Dorf gelebt hatten, in dem die Bomben den Zug der Gefangenen nach Westen beendeten. Die wichtigsten Zeugen waren die Tochter, die nach Deutschland gekommen, und die Mutter, die in Israel geblieben war. Zur Vernehmung der Mutter fuhren Gericht, Staatsanwälte und Verteidiger nach Israel – der einzige Abschnitt der Verhandlung, den ich nicht miterlebt habe.
    Der eine Hauptanklagepunkt galt den Selektionen im Lager. Jeden Monat wurden aus Auschwitz rund sechzig neue Frauen geschickt und waren ebenso viele nach Auschwitz zurückzuschicken, abzüglich derer, die in der Zwischenzeit gestorben waren. Allen war klar, daß die Frauen in Auschwitz umgebracht wurden; es wurden die zurückgeschickt, die bei der Arbeit in der Fabrik nicht mehr eingesetzt werden konnten. Es war eine Munitionsfabrik, in der zwar die eigentliche Arbeit nicht schwer war, in der die Frauen aber zur eigentlichen Arbeit kaum kamen, sondern bauen mußten, weil die Explosion im Frühjahr schlimme Schäden hinterlassen hatte.
    Der andere Hauptanklagepunkt galt der Bombennacht, mit der alles zu Ende ging. Die Wachmannschaften und Aufseherinnen hatten die Gefangenen, mehrere hundert Frauen, in die Kirche eines Dorfs gesperrt, das von den meisten Einwohnern verlassen worden war. Es fielen nur ein paar Bomben, vielleicht für eine nahe Eisenbahnlinie gedacht oder eine Fabrikanlage oder auch nur abgeworfen, weil sie von einem Angriff auf eine größere Stadt übrig waren. Die eine traf das Pfarrhaus, in dem die Wachmannschaften und Aufseherinnen schliefen. Eine andere schlug in den Kirchturm ein. Zuerst brannte der Turm, dann das Dach, dann stürzte das Gebälk lodernd in den Kirchenraum hinab, und das Gestühl fing Feuer. Die schweren Türen hielten stand. Die Angeklagten hätten sie aufschließen können. Sie taten es nicht, und die in der Kirche eingeschlossenen Frauen verbrannten.

6
     
    Für Hanna hätte die Verhandlung nicht schlechter laufen können. Schon bei ihrer Vernehmung zur Person hatte sie auf das Gericht keinen guten Eindruck gemacht. Nach der Verlesung der Anklage meldete sie sich, weil etwas nicht stimme; der Vorsitzende Richter wies sie irritiert zurecht, vor Eröffnung des Hauptverfahrens habe sie die Anklage lange genug studieren und ihre Einwendungen erheben können, jetzt sei man in der Hauptverhandlung, und was an der Anklage stimme und nicht stimme, werde die Beweisaufnahme zeigen. Als zu Beginn der Beweisaufnahme der Vorsitzende Richter vorschlug, auf die Verlesung der deutschen Fassung des Buchs der Tochter zu verzichten, da sie, von einem deutschen Verlag zur Veröffentlichung vorbereitet, allen Beteiligten im Manuskript zugänglich gemacht worden war, mußte Hanna von ihrem Anwalt unter dem irritierten Blick des Vorsitzenden Richters dazu überredet werden, sich einverstanden zu erklären. Sie wollte nicht. Sie wollte auch nicht akzeptieren, daß sie bei einer früheren richterlichen Vernehmung zugegeben hatte, den Schlüssel zur Kirche gehabt zu haben. Sie habe den Schlüssel nicht gehabt, niemand habe den Schlüssel gehabt, es habe den einen Schlüssel zur Kirche gar nicht gegeben, sondern mehrere Schlüssel zu mehreren Türen, und die hätten von außen in den Schlössern gesteckt. Aber im Protokoll ihrer richterlichen Vernehmung, von ihr gelesen und unterschrieben, stand es anders, und daß sie fragte, warum man ihr etwas anhängen wolle, machte die Sache nicht besser. Sie fragte nicht laut, nicht rechthaberisch, aber beharrlich und dabei, wie ich fand, sicht- und hörbar verwirrt und ratlos, und daß sie davon redete, man wolle ihr

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