Immer Ärger mit Opa: Roman (German Edition)
1.
Nur keine Umstände
»Sehr vernünftig«, sagte die weißhaarige Dame und deutete auf die Tupperdose in meinem Arm.
»Wie bitte?« Vor Schreck hätte ich Opa beinahe fallen lassen. Zumindest das, was von ihm übrig war. Besaß sie etwa einen Röntgenblick? Und was fand sie daran vernünftig?
»Dass Sie sich Ihr eigenes Essen für die Zugfahrt mitbringen. Im Bordrestaurant schmeckt es doch nicht und ist sowieso zu teuer, finden Sie nicht auch?«
Ich schluckte hart und kniff die Augen zusammen. Sinnlos. Ein Tränensturzbach ergoss sich auf den Plastikdeckel und wurde dort zur Miniaturpfütze.
Oh Gott! Hoffentlich war der Deckel dicht, sonst würde es jetzt Matsch geben. Schnell wischte ich mit dem Ärmel drüber.
»Liebes Kind, bitte verzeihen Sie. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
Das Gesicht der alten Dame war ein einziges Fragezeichen, aber sie war zum Glück zu höflich, um mich weiter auszuhorchen. Sie kramte einen Plastikbehälter aus ihrer Tasche. Keine Tupperware, das sah ich mit einem Blick. »Darf ich Ihnen auch etwas von meinem Proviant anbieten? Ich kann das gar nicht alles essen. Hertha Kowalski ist übrigens mein Name. Wissen Sie, ich habe in München meine Tochter besucht. Seit mein armer Mann nicht mehr lebt, habe ich viel zu viel Zeit. Heute geht es heim nach Hamburg. Hier, Schwarzbrot mit Leberwurst und … Oh jemine! Gleich noch mal?«
Ich heulte schon wieder los. Leberwurst war Opas Lieblingswurst gewesen. Wie oft hatte er mir erzählt, dass früher auf dem Hof beim Schlachten eines Schweins alles verwendet wurde, von den Ohren bis zum Ringelschwanz. Und die Leberwurst hatte er persönlich hergestellt.
Mein Magen hob sich, aber wenigstens versiegten die Tränen.
»Ach, du liebes Lieschen! Ist Ihnen schlecht? Sie sind ja ganz blass. Oder nein, eher grün.«
Jetzt, wo sie es aussprach, wurde mir erst recht übel. »Können Sie mal halten?«, presste ich hervor und überreichte Hertha Kowalski die Tupperdose.
Sie nahm sie und stieß einen erschrockenen Laut aus, weil die Dose so leicht war. Es musste sich anfühlen, als wollte sie in Richtung Waggondecke aufsteigen. Ihr Gewicht entsprach nicht Herthas Erwartungen von vier belegten Broten, zwei Äpfeln und ein paar Schokoriegeln.
Aus den Augenwinkeln sah ich gerade noch, wie sie die Dose trotzdem gut festhielt. Dann stürzte ich durch den Mittelgang in Richtung Toilette.
Ich blieb ziemlich lange dort. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, Opa mit Hertha Kowalski allein zu lassen, aber meine Übelkeit war stärker. Während der ICE sich Würzburg näherte, kam ich langsam wieder zur Ruhe.
Anschließend wusch ich mir das Gesicht, trocknete es mit Papierhandtüchern ab und betrachtete die Fremde da im angerosteten Spiegel. Dieser matte Blick, die beiden tiefschwarzen Schluchten unter den Augen, die Mundwinkel, die wie zwei Pfeilspitzen in Richtung Kniescheiben zeigten – das sollte ich sein? Nele Lüttjens, dreiunddreißig Jahre alt, immer perfekt durchgestylt, immer gut drauf, karrieretechnisch tipptopp auf der Überholspur? Nee, ne?
Der Spiegel gab aber kein anderes Bild her, solange ich auch draufstarrte. Unterhalb der Kinnlinie konnten mein burgunderfarbener Zweiteiler von Jil Sander und die weiße Seidenbluse von Giorgio Armani einiges rausreißen, zumal beide zum Glück fleckenfrei geblieben waren. Aber weiter oberhalb sah man mir an, was ich in den letzten Tagen durchgemacht hatte.
Bevor Opa Hermann Lüttjens beschloss, überraschend nach München zu reisen, war ich die schon erwähnte gepflegte Tipptopp-Nele gewesen, die sich in den letzten dreizehneinhalb Jahren von einem schüchternen Landei aus der Lüneburger Heide zu einer trendigen Großstädterin entwickelt hatte. Inklusive Aufstieg zur Ersten Hausdame im Nobelhotel Kiefers am Maximiliansplatz, Dachwohnung (korrekterweise »Penthouse ohne Terrasse«), riesigem Freundeskreis, aufregendem Nachtleben und, am wichtigsten überhaupt, definitiv durchtrennter Nabelschnur.
So wollte ich wieder sein, so wollte ich wieder aussehen. Blöd nur, dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann. Bisher war ich in meinem Leben über dieses Naturgesetz immer ganz froh gewesen.
Jetzt nicht mehr.
Ach, Opa, dachte ich, und ignorierte ein energisches Klopfen gegen die Toilettentür. Was ist bloß passiert?
Die reinen Fakten kannte ich ja. Hermann, vierundneunzigjähriger Patriarch der Lüttjens aus Nordergellersen, einem hübschen Heidedorf westlich von Lüneburg, das nur von der
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