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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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wurde. Mutter und Tochter standen an die Wand gepreßt und sahen und hörten das Wüten des Feuers. Sie trauten sich am nächsten Tag nicht hinunter und hinaus. In der Dunkelheit der folgenden Nacht fürchteten sie, die Stufen der Treppe und den Weg zu verfehlen. Als sie im Morgengrauen des übernächsten Tags aus der Kirche kamen, begegneten sie einigen Bewohnern des Dorfs, die sie fassungs- und wortlos anstarrten, ihnen aber Kleider und Essen gaben und sie ziehen ließen.

9
     
    »Warum haben Sie nicht aufgeschlossen?«
    Der Vorsitzende Richter stellte einer Angeklagten nach der anderen dieselbe Frage. Eine Angeklagte nach der anderen gab dieselbe Antwort. Sie habe nicht aufschließen können. Warum? Sie sei beim Einschlag der Bombe ins Pfarrhaus verwundet worden. Oder sie habe unter dem Schock des Einschlags gestanden. Oder sie habe sich nach dem Einschlag der Bombe um die verwundeten Wachmannschaften und anderen Aufseherinnen gekümmert, sie aus den Trümmern geborgen, verbunden, versorgt. Sie habe nicht an die Kirche gedacht, sei nicht in der Nähe der Kirche gewesen, habe den Brand in der Kirche nicht gesehen und die Rufe aus der Kirche nicht gehört.
    Der Vorsitzende Richter machte einer Angeklagten nach der anderen denselben Vorhalt. Der Bericht lese sich anders. Das war mit Bedacht vorsichtig formuliert. Zu sagen, daß es im Bericht, der sich in den Akten der SS gefunden hatte, anders stand, wäre falsch gewesen. Aber richtig war, daß er sich anders las. Er erwähnte namentlich, wer im Pfarrhaus getötet und wer verwundet worden war, wer die Verwundeten mit dem Lastwagen in ein Lazarett transportiert und wer den Transport im Kübelwagen begleitet hatte. Er erwähnte, daß Aufseherinnen zurückgeblieben waren, um das Ende der Brände abzuwarten, ein Übergreifen zu verhindern und Fluchtversuche im Schutz der Brände zu unterbinden. Er erwähnte den Tod der Gefangenen.
    Daß die Namen der Angeklagten nicht unter den aufgeführten Namen waren, sprach dafür, daß die Angeklagten zu den zurückgebliebenen Aufseherinnen gehört hatten. Daß die Aufseherinnen zurückgeblieben waren, um Fluchtversuche zu verhindern, sprach dafür, daß mit der Bergung der Verwundeten aus dem Pfarrhaus und der Abfahrt des Transports ins Lazarett nicht schon alles vorbei war. Die zurückgebliebenen Aufseherinnen hatten, so las es sich, den Brand in der Kirche toben lassen und die Türen der Kirche geschlossen gehalten. Unter den zurückgebliebenen Aufseherinnen waren, so las es sich, die Angeklagten gewesen.
    Nein, sagte eine Angeklagte nach der anderen, so sei es nicht gewesen. Der Bericht sei falsch. Das sehe man schon daran, daß er von der Aufgabe der zurückgebliebenen Aufseherinnen rede, ein Übergreifen der Brände zu verhindern. Wie hätten sie diese Aufgabe erfüllen sollen. Sie sei Unsinn, und ebenso sei die andere Aufgabe, Fluchtversuche im Schutz der Brände zu verhindern, Unsinn. Fluchtversuche? Als sie sich nicht mehr um die eigenen hätten kümmern müssen und um die anderen, die Gefangenen, hätten kümmern können, sei nichts mehr zu fliehen gewesen. Nein, der Bericht verkenne ganz und gar, was sie in der Nacht gemacht, geleistet und gelitten hätten. Wie es zu einem derart falschen Bericht kommen könne? Sie wüßten es auch nicht.
    Bis die behäbig-gehässige Angeklagte dran war. Sie wußte es. »Fragen Sie die da!« Sie zeigte mit dem Finger auf Hanna. »Sie hat den Bericht geschrieben. Sie ist an allem schuld, sie allein, und mit dem Bericht hat sie das vertuschen und uns reinziehen wollen.«
    Der Vorsitzende fragte Hanna. Aber es war seine letzte Frage. Seine erste Frage war:»Warum haben Sie nicht aufgeschlossen?«
    »Wir waren … wir hatten …« Hanna suchte nach der Antwort. »Wir wußten uns nicht anders zu helfen.«
    »Sie wußten sich nicht anders zu helfen?«
    »Einige von uns waren tot, und die anderen haben sich davongemacht. Sie haben gesagt, daß sie die Verwundeten ins Lazarett schaffen und wiederkommen, aber sie wußten, daß sie nicht wiederkommen, und wir haben es auch gewußt. Vielleicht sind sie auch gar nicht ins Lazarett gefahren, so schlimm verletzt waren die Verwundeten nicht. Wir wären auch mitgefahren, aber sie haben gesagt, die Verwundeten brauchen den Platz, und sie haben sowieso nichts … waren sowieso nicht scharf darauf, so viele Frauen mit dabei zu haben. Ich weiß nicht, wohin sie sind.«
    »Was haben Sie gemacht?«
    »Wir haben nicht gewußt, was wir machen sollen. Es ging

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