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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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Frage an den Richter. Sie sprach vor sich hin, fragte sich selbst, zögernd, weil sie sich die Frage noch nicht gestellt hatte und zweifelte, ob es die richtige Frage und was die Antwort war.

7
     
    Wie die Beharrlichkeit, mit der Hanna widersprach, den Vorsitzenden Richter ärgerte, so ärgerte die Bereitwilligkeit, mit der sie zugab, die anderen Angeklagten. Für deren Verteidigung, aber auch für Hannas eigene Verteidigung war sie fatal.
    Eigentlich war die Beweislage für die Angeklagten günstig. Beweismittel für den ersten Hauptanklagepunkt waren ausschließlich das Zeugnis der überlebenden Mutter, ihrer Tochter und deren Buch. Eine gute Verteidigung hätte, ohne die Substanz der Aussagen von Mutter und Tochter anzugreifen, glaubhaft bestreiten können, daß gerade die Angeklagten die Selektionen vorgenommen hatten. Insoweit waren die Zeugenaussagen nicht präzise und konnten nicht präzise sein; immerhin gab es einen Kommandanten, Wachmannschaften, weitere Aufseherinnen und eine Aufgaben- und Befehlshierarchie, mit der die Gefangenen nur partiell konfrontiert wurden und die sie nur entsprechend partiell durchschauen konnten. Ähnlich war es beim zweiten Anklagepunkt. Mutter und Tochter waren in der Kirche eingesperrt gewesen und konnten über das, was draußen passiert war, keine Aussagen machen. Die Angeklagten konnten zwar nicht vorgeben, nicht dort gewesen zu sein. Die anderen Zeugen, die damals in dem Dorf gelebt hatten, hatten mit ihnen gesprochen und erinnerten sich an sie. Aber diese anderen Zeugen mußten aufpassen, daß auf sie nicht der Vorwurf fiel, sie hätten selbst die Gefangenen retten können. Wenn nur die Angeklagten da waren – konnten dann die Bewohner des Dorfs die paar Frauen nicht überwältigen und selbst die Türen der Kirche aufschließen? Mußten sie nicht auf eine Linie der Verteidigung einschwenken, bei der die Angeklagten unter einem auch sie, die Zeugen, entlastenden Zwang handelten? Unter der Gewalt oder dem Befehl von Wachmannschaften, die doch noch nicht geflohen waren oder von denen die Angeklagten immerhin angenommen hatten, sie seien nur kurz weg, etwa um Verwundete in ein Lazarett zu schaffen, und bald wieder zurück?
    Als die Verteidiger der anderen Angeklagten merkten, daß solche Strategien an Hannas bereitwilligem Zugeben scheiterten, stellten sie auf eine Strategie um, die das bereitwillige Zugeben ausnutzte, Hanna be- und dadurch die anderen Angeklagten entlastete. Die Verteidiger taten es mit fachlicher Distanz. Die anderen Angeklagten sekundierten mit empörten Einwürfen.
    »Sie haben gesagt, Sie hätten gewußt, daß Sie die Gefangenen in den Tod schicken – das gilt nur für Sie, nicht wahr? Was Ihre Kolleginnen gewußt haben, können Sie nicht wissen. Sie können es vielleicht vermuten, aber letztlich nicht beurteilen, nicht wahr?«
    Hanna wurde vom Anwalt einer anderen Angeklagten befragt.
    »Aber wir alle wußten …«
    »›Wir‹, ›wir alle‹, zu sagen ist einfacher, als ›ich‹ zu sagen, ›ich allein‹, nicht wahr? Stimmt es, daß Sie, Sie allein, im Lager Ihre Schützlinge hatten, junge Mädchen jeweils, eines für eine Weile und dann für eine Weile ein anderes?«
    Hanna zögerte. »Ich glaube, daß ich nicht die einzige war, die …«
    »Du dreckige Lügnerin! Deine Lieblinge – das war deines, deines allein!« Eine andere Angeklagte, eine derbe Frau, nicht ohne gluckenhafte Behäbigkeit und zugleich mit gehässigem Mundwerk, war sichtbar erregt.
    »Könnte es sein, daß Sie ›wissen‹ sagen, wo Sie allenfalls glauben können, und ›glauben‹, wo Sie einfach erfinden?« Der Anwalt schüttelte den Kopf, als nehme er ihre bejahende Antwort bekümmert zur Kenntnis. »Stimmt es auch, daß alle Ihre Schützlinge, wenn Sie ihrer überdrüssig waren, in den nächsten Transport nach Auschwitz kamen?«
    Hanna antwortete nicht.
    »Das war Ihre spezielle, Ihre persönliche Selektion, nicht wahr? Sie wollen sie nicht mehr wahrhaben, Sie wollen sie verstecken hinter etwas, was alle gemacht haben. Aber …«
    »O Gott!« Die Tochter, die sich nach ihrer Vernehmung unter die Zuschauer gesetzt hatte, schlug die Hände vors Gesicht. »Wie habe ich das vergessen können?« Der Vorsitzende Richter fragte sie, ob sie ihre Aussage ergänzen wolle. Sie wartete nicht, bis sie nach vorne gerufen wurde. Sie stand auf und redete von ihrem Platz unter den Zuschauern aus.
    »Ja, sie hatte Lieblinge, immer eine von den jungen, schwachen und zarten, und die nahm

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