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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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gegenübertreten. Außerdem hatte ich mit ihr zwar nicht darüber gesprochen, stellte mir aber vor, daß sie als Straßenbahnschaffnerin oft bis in den Abend und in die Nacht arbeitete. Wie sollte ich sie jeden Tag sehen, wenn ich zu Hause bleiben mußte und nur meine Rekonvaleszentenspaziergänge machen durfte?
    Als ich von ihr nach Hause kam, saßen meine Eltern und Geschwister schon beim Abendessen. »Warum kommst du so spät? Deine Mutter hat sich Sorgen um dich gemacht.« Mein Vater klang mehr ärgerlich als besorgt.
    Ich sagte, ich hätte mich verirrt; ich hätte einen Spaziergang über den Ehrenfriedhof zur Molkenkur geplant, sei aber lange nirgendwo und schließlich in Nußloch angekommen. »Ich hatte kein Geld und mußte von Nußloch nach Hause laufen.«
    »Du hättest trampen können.« Meine jüngere Schwester trampte manchmal, was meine Eltern nicht billigten.
    Mein älterer Bruder schnaubte verächtlich. »Molkenkur und Nußloch – das sind völlig verschiedene Richtungen.«
    Meine ältere Schwester sah mich prüfend an.
    »Ich gehe morgen wieder zur Schule.«
    »Dann paß gut auf in Geographie. Es gibt Norden und Süden, und die Sonne geht …«
    Meine Mutter unterbrach meinen Bruder. »Noch drei Wochen, hat der Arzt gesagt.«
    »Wenn er über den Ehrenfriedhof nach Nußloch und wieder zurück laufen kann, kann er auch in die Schule gehen. Ihm fehlt’s nicht an Kraft, ihm fehlt’s an Grips.« Als kleine Jungen hatten mein Bruder und ich uns ständig geprügelt, später verbal bekämpft. Drei Jahre älter, war er mir im einen so überlegen wie im anderen. Irgendwann habe ich aufgehört zurückzugeben und seinen kämpferischen Einsatz ins Leere laufen lassen. Seitdem beschränkte er sich aufs Nörgeln.
    »Was meinst du?« Meine Mutter wandte sich an meinen Vater. Er legte Messer und Gabel auf den Teller, lehnte sich zurück und faltete die Hände im Schoß. Er schwieg und schaute nachdenklich, wie jedesmal, wenn meine Mutter ihn der Kinder oder des Haushalts wegen ansprach. Wie jedesmal fragte ich mich, ob er tatsächlich über die Frage meiner Mutter nachdachte oder über seine Arbeit. Vielleicht versuchte er auch, über die Frage meiner Mutter nachzudenken, konnte aber, einmal ins Nachdenken verfallen, nicht anders als an seine Arbeit denken. Er war Professor für Philosophie, und Denken war sein Leben, Denken und Lesen und Schreiben und Lehren.
    Manchmal hatte ich das Gefühl, wir, seine Familie, seien für ihn wie Haustiere. Der Hund, mit dem man spazierengeht, und die Katze, mit der man spielt, auch die Katze, die sich im Schoß kringelt und schnurrend streicheln läßt – das kann einem lieb sein, man kann es in gewisser Weise sogar brauchen, und trotzdem ist einem das Einkaufen des Futters, das Säubern des Katzenklos und der Gang zum Tierarzt eigentlich schon zu viel. Denn das Leben ist anderswo. Ich hätte gerne gehabt, daß wir, seine Familie, sein Leben gewesen wären. Manchmal hätte ich auch meinen nörgelnden Bruder und meine freche kleine Schwester lieber anders gehabt. Aber an dem Abend hatte ich sie alle plötzlich furchtbar lieb. Meine kleine Schwester. Vermutlich war es nicht leicht, das jüngste von vier Geschwistern zu sein, und konnte sie sich ohne einige Frechheit nicht behaupten. Mein großer Bruder. Wir hatten ein gemeinsames Zimmer, was für ihn sicher schwieriger war als für mich, und überdies mußte er, seit ich krank war, mir das Zimmer völlig lassen und auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Wie sollte er nicht nörgeln? Mein Vater. Warum sollten wir Kinder sein Leben sein? Wir wuchsen heran und waren bald groß und aus dem Haus.
    Mir war, als säßen wir das letzte Mal gemeinsam um den runden Tisch unter dem fünfarmigen, fünfkerzigen Leuchter aus Messing, als äßen wir das letzte Mal von den alten Tellern mit den grünen Ranken am Rand, als redeten wir das letzte Mal so vertraut miteinander. Ich fühlte mich wie bei einem Abschied. Ich war noch da und schon weg. Ich hatte Heimweh nach Mutter und Vater und den Geschwistern und die Sehnsucht, bei der Frau zu sein.
    Mein Vater sah zu mir herüber. »Ich gehe morgen wieder zur Schule – so hast du gesagt, nicht wahr?«
    »Ja.« Es war ihm also aufgefallen, daß ich ihn und nicht Mutter gefragt und auch nicht gesagt hatte, ich frage mich, ob ich wieder in die Schule gehen soll.
    Er nickte. »Lassen wir dich zur Schule gehen. Wenn es dir zuviel wird, bleibst du eben wieder zu Hause.«
    Ich war froh. Zugleich hatte ich

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