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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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von meinem Schwänzen.
    »Raus.« Sie schlug das Deckbett zurück. »Raus aus meinem Bett. Und komm nicht wieder, wenn du nicht deine Arbeit machst. Blöd ist deine Arbeit? Blöd? Was meinst du, was Fahrscheine verkaufen und lochen ist.« Sie stand auf, stand nackt in der Küche und spielte Schaffnerin. Sie schlug mit der Linken die kleine Mappe mit den Fahrscheinblöcken auf, streifte mit dem Daumen derselben Hand, auf dem ein Gummifingerhut steckte, zwei Fahrscheine ab, schlenkerte mit der Rechten, so daß sie den Griff der am Handgelenk baumelnden Zange zu fassen bekam, und knipste zweimal. »Zweimal Rohrbach.« Sie ließ die Zange los, streckte die Hand aus, nahm einen Geldschein, klappte vor ihrem Bauch die Geldtasche auf, steckte den Geldschein hinein, klappte die Geldtasche wieder zu und drückte aus den außen angebrachten Behältern für Münzen das Wechselgeld heraus. »Wer hat noch keinen Fahrschein?« Sie sah mich an. »Blöd? Du weißt nicht, was blöd ist.«
    Ich saß auf dem Bettrand. Ich war wie betäubt. »Es tut mir leid. Ich werde meine Arbeit machen. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, in sechs Wochen ist das Schuljahr vorbei. Ich werde es versuchen. Aber ich schaff’s nicht, wenn ich dich nicht mehr sehen darf. Ich …« Zuerst wollte ich sagen: Ich liebe dich. Aber dann mochte ich nicht. Vielleicht hatte sie recht, gewiß hatte sie recht. Aber sie hatte kein Recht, von mir zu fordern, daß ich mehr für die Schule tue, und davon abhängig zu machen, ob wir uns sehen. »Ich kann dich nicht nicht sehen.«
    Die Uhr im Flur schlug halb zwei. »Du mußt gehen.« Sie zögerte. »Ab morgen hab ich Hauptschicht. Halb sechs – dann komme ich nach Hause und kannst du auch kommen. Wenn du davor arbeitest.«
    Wir standen uns nackt gegenüber, aber sie hätte mir in ihrer Uniform nicht abweisender vorkommen können. Ich begriff die Situation nicht. War es ihr um mich zu tun? Oder um sich? Wenn meine Arbeit blöd ist, dann ist ihre erst recht blöd – hatte sie das gekränkt? Aber ich hatte gar nicht gesagt, daß meine oder ihre Arbeit blöd ist. Oder wollte sie keinen Versager zum Geliebten? Aber war ich ihr Geliebter? Was war ich für sie? Ich zog mich an, trödelte und hoffte, sie würde etwas sagen. Aber sie sagte nichts. Dann war ich angezogen, und sie stand immer noch nackt, und als ich sie zum Abschied umarmte, reagierte sie nicht.

9
     
    Warum macht es mich so traurig, wenn ich an damals denke? Ist es die Sehnsucht nach vergangenem Glück – und glücklich war ich in den nächsten Wochen, in denen ich wirklich wie blöd gearbeitet und die Klasse geschafft habe und wir uns geliebt haben, als zähle sonst nichts auf der Welt. Ist es das Wissen, was danach kam und daß danach nur ans Licht kam, was schon da war?
    Warum? Warum wird uns, was schön war, im Rückblick dadurch brüchig, daß es häßliche Wahrheiten verbarg? Warum vergällt es die Erinnerung an glückliche Ehejahre, wenn sich herausstellt, daß der andere die ganzen Jahre einen Geliebten hatte? Weil man in einer solchen Lage nicht glücklich sein kann? Aber man war glücklich! Manchmal hält die Erinnerung dem Glück schon dann die Treue nicht, wenn das Ende schmerzlich war. Weil Glück nur stimmt, wenn es ewig hält? Weil schmerzlich nur enden kann, was schmerzlich gewesen ist, unbewußt und unerkannt? Aber was ist unbewußter und unerkannter Schmerz?
    Ich denke an damals zurück und sehe mich vor mir. Ich trug die eleganten Anzüge auf, die ein reicher Onkel hinterlassen hatte und die an mich gelangt waren, zusammen mit mehreren Paaren zweifarbiger Schuhe, schwarz und braun, schwarz und weiß, Wild- und glattes Leder. Ich hatte zu lange Arme und zu lange Beine, nicht für die Anzüge, die meine Mutter herausgelassen hatte, aber für die Koordination meiner Bewegungen. Meine Brille war ein billiges Kassenmodell und mein Haar ein zauser Mop, ich konnte machen, was ich wollte. In der Schule war ich nicht gut und nicht schlecht; ich glaube, viele Lehrer haben mich nicht recht wahrgenommen und auch nicht die Schüler, die in der Klasse den Ton angaben. Ich mochte nicht, wie ich aussah, wie ich mich anzog und bewegte, was ich zustande brachte und was ich galt. Aber wieviel Energie war in mir, wieviel Vertrauen, eines Tages schön und klug, überlegen und bewundert zu sein, wieviel Erwartung, mit der ich neuen Menschen und Situationen begegnet bin.
    Ist es das, was mich traurig macht? Der Eifer und Glaube, der mich damals erfüllte und dem

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