Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
ausschüttelte. Sie rief etwas nach unten, über Kohlenstaub und Sägespäne, von unten rief’s hoch, und sie lachte. Zurück in der Küche, legte sie meine Sachen auf den Stuhl. Sie warf mir nur einen raschen Blick zu. »Nimm das Shampoo und wasch dir auch die Haare. Ich bring gleich das Frottiertuch.« Sie nahm etwas aus dem Kleiderschrank und ging aus der Küche.
Ich wusch mich. Das Wasser in der Wanne war schmutzig, und ich ließ frisches Wasser zulaufen, um unter dem Strahl Kopf und Gesicht sauberzuspülen. Dann lag ich da, hörte den Badeofen bullern, spürte im Gesicht die kühle Luft, die durch die spaltoffene Küchentür kam, und am Körper das warme Wasser. Mir war behaglich. Es war ein erregendes Behagen, und mein Geschlecht wurde steif.
Ich sah nicht auf, als sie in die Küche kam, erst als sie vor der Wanne stand. Mit ausgebreiteten Armen hielt sie ein großes Tuch. »Komm!« Ich wandte ihr den Rücken zu, als ich mich aufrichtete und aus der Wanne stieg. Sie hüllte mich von hinten in das Tuch, von Kopf bis Fuß, und rieb mich trocken. Dann ließ sie das Tuch zu Boden fallen. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Sie trat so nahe an mich heran, daß ich ihre Brüste an meinem Rücken und ihren Bauch an meinem Po spürte. Auch sie war nackt. Sie legte die Arme um mich, die eine Hand auf meine Brust und die andere auf mein steifes Geschlecht.
»Darum bist du doch hier!«
»Ich …« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Nicht ja, aber auch nicht nein. Ich drehte mich um. Ich sah nicht viel von ihr. Wir standen zu dicht. Aber ich war überwältigt von der Gegenwart ihres nackten Körpers. »Wie schön du bist!«
»Ach, Jungchen, was redest du.« Sie lachte und schlang die Arme um meinen Hals. Auch ich nahm sie in meine Arme.
Ich hatte Angst: vor dem Berühren, vor dem Küssen, davor, daß ich ihr nicht gefallen und nicht genügen würde. Aber als wir uns eine Weile gehalten hatten, ich ihren Geruch gerochen und ihre Wärme und Kraft gefühlt hatte, wurde alles selbstverständlich. Das Erforschen ihres Körpers mit Händen und Mund, die Begegnung der Münder und schließlich sie über mir, Auge in Auge, bis es mir kam und ich die Augen fest schloß und zunächst mich zu beherrschen versuchte und dann so laut schrie, daß sie den Schrei mit ihrer Hand auf meinem Mund erstickte.
7
In der folgenden Nacht habe ich mich in sie verliebt. Ich schlief nicht tief, sehnte mich nach ihr, träumte von ihr, meinte, sie zu spüren, bis ich merkte, daß ich das Kissen oder die Decke hielt. Vom Küssen tat mir der Mund weh. Immer wieder regte sich mein Geschlecht, aber ich wollte mich nicht selbst befriedigen. Ich wollte mich nie mehr selbst befriedigen. Ich wollte mit ihr sein.
Habe ich mich in sie verliebt als Preis dafür, daß sie mit mir geschlafen hat? Bis heute stellt sich nach einer Nacht mit einer Frau das Gefühl ein, ich sei verwöhnt worden und müsse es abgelten – ihr gegenüber, indem ich sie zu lieben immerhin versuche, und auch gegenüber der Welt, der ich mich stelle.
Eine meiner wenigen lebendigen Erinnerungen aus früher Kindheit gilt einem Wintermorgen, als ich vier war. Das Zimmer, in dem ich damals schlief, wurde nicht geheizt, und nachts und morgens war es oft sehr kalt. Ich erinnere mich an die warme Küche und den heißen Herd, ein schweres, eisernes Gerät, in dem man das Feuer sah, wenn man mit einem Haken die Platten und Ringe der Herdstellen wegzog, und in dem ein Becken stets warmes Wasser bereithielt. Vor den Herd hatte meine Mutter einen Stuhl gerückt, auf dem ich stand, während sie mich wusch und ankleidete. Ich erinnere mich an das wohlige Gefühl der Wärme und an den Genuß, den es mir bereitete, in dieser Wärme gewaschen und angekleidet zu werden. Ich erinnere mich auch, daß, wann immer mir die Situation in Erinnerung kam, ich mich fragte, warum meine Mutter mich so verwöhnt hat. War ich krank? Hatten die Geschwister etwas bekommen, was ich nicht bekommen hatte? Stand für den weiteren Verlauf des Tages Unangenehmes, Schwieriges an, das ich bestehen mußte?
Auch weil die Frau, für die ich in Gedanken keinen Namen hatte, mich am Nachmittag so verwöhnt hatte, ging ich am nächsten Tag wieder in die Schule. Dazu kam, daß ich die Männlichkeit, die ich erworben hatte, zur Schau stellen wollte. Nicht daß ich hätte angeben wollen. Aber ich fühlte mich kraftvoll und überlegen und wollte meinen Mitschülern und Lehrern mit dieser Kraft und Überlegenheit
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