Der wahre Hannibal Lecter
erstochen habe. Und ich kann mir keine Situation vorstellen, wo das passieren könnte. Trotzdem lässt man mich hier abstumpfen, dahinvegetieren, mich zurückentwickeln. Ich muss meiner Einsamkeit ins Gesicht sehen, vor Menschen, die Augen haben, aber nicht sehen, die Ohren haben, aber nicht hören, die Münder haben, aber nicht sprechen. Also werde ich hier konsequenterweise auch ohne Stimme gelassen. Und die Frage, die ich jedem in Wakefield stelle, ist: Warum behandelt man mich so?«
Tief beeindruckt nimmt man in England die Aussagen dieses Mannes zur Kenntnis. Man kann dem Artikel entnehmen, dass Robert John Maudsley seit Jahrzehnten keinerlei Kommunikationsmöglichkeiten, nicht einmal mit Mitgefangenen hatte.
Verwunderlich ist nicht nur seine Schrift, die als akkurat und verschnörkelt, ja geradezu als Schönschrift beschrieben werden kann.
Dieser »einfältige, dümmliche und äußerst brutale Mensch«, wie er einmal beschrieben wurde, bildet nun Sätze, die viele verwundern. Maudsley schreibt Briefe, die zum Nachdenken anregen. Wie er selbst berichtet, ist es ihm nicht möglich, mit Mitgefangenen zu kommunizieren. Aber woher kommt dann sein Wortschatz?
Sein Wörterbuch ist ganz offensichtlich die Bibel geworden.
Er muss sehr viel gelesen haben im Buch der Weisheiten, dem Buch, auf das jeder Strafgefangene ein Anrecht hat. Viele lesen es, wenn auch nur, um damit die Zeit totzuschlagen.
Vielleicht ist er auf der Suche nach Erklärungen für seine Taten, erhofft eine Gnade für sein sinnloses Tun, die ihm nur der Glaube verschaffen kann.
Er beruft sich in seinem Brief auf die Worte des weisen Königs David, geschrieben in einer erhabenen Sprache, die den Leser tief ergreift. In den Psalmen, dem längsten Buch der Bibel, ist in Kapitel 115, Vers 6/7 zu lesen:
Sie haben einen Mund und reden nicht, Augen und sehen nicht,
sie haben Ohren und hören nicht,
eine Nase und riechen nicht;
mit ihren Händen können sie nicht greifen, mit den Füßen nicht gehen,
sie bringen keinen Laut hervor aus ihrer Kehle.
Er schreibt noch einen zweiten Brief, der die Leitung der Strafanstalt Wakefield zum Nachdenken bringen und in höchste Alarmbereitschaft versetzen sollte:
»Vielen Dank, dass Sie das Thema meiner mentalen und physischen Gesundheit aufgenommen haben… Es mag Sie interessieren, zu wissen, dass ich nicht einmal telefonieren oder an MIND (Gesellschaft für geistige Gesundheit) schreiben darf, noch an die Samariter. Wenn ich doch nur mit jemandem sprechen und ihm meine Probleme mitteilen könnte. Nach meiner jetzigen Behandlung und Inhaftierung muss ich die Schlussfolgerung ziehen, dass alles, auf was ich hoffen kann, tatsächlich ein psychologischer Zusammenbruch, eine Geisteskrankheit oder vielleicht der Selbstmord ist. Häftlinge wie ich bekommen nichts von der Gefängnisbehörde, deshalb sind wir auch frei von jeglicher Verantwortung. Deshalb können wir auch wählen, wie wir uns verhalten, je nachdem, was uns unser Bewusstsein – oder Unterbewusstsein – diktiert.
Meine Gefühle von Ärger, Hass, Frustration und ultimativer Hoffnungslosigkeit gebe ich offen zu… Braucht es erst den Tod eines weiteren Häftlings oder eines Gefängniswärters, bevor die Behörden solche Themen anfassen? Ich hoffe nicht.
Warum kann ich keinen Fernseher in meiner Zelle haben, um die Welt zu sehen und davon zu lernen. Warum kann ich keine Musikkassetten haben, um schöne, klassische Musik zu hören?
Warum kann ich keinen Wellensittich statt der Fliegen, Kakerlaken und Spinnen haben? Ich verspreche auch, ihn zu lieben – und ihn nicht zu essen. Warum kann ich statt der dreckigen, feuchten Flecken keine schönen und erstaunlichen Bilder an meinen Wänden haben? Warum darf ich nicht einmal Briefmarken besitzen, damit ich Kontakt zu meiner Familie, zu Freunden und anderen Menschen, die mich anschreiben, aufnehmen kann? Wenn die Gefängnisleitung ›Nein‹ sagt, bitte ich um eine einfache Zyanidkapsel, die ich gerne einnehmen werde und die das Problem von Robert John Maudsley einfach und schnell lösen kann.
Vielen Dank.«
(Der Brief ist mit seinem Namen und seiner Häftlingsnummer unterschrieben.)
Seine Augen blicken fast furchtsam in seiner einsamen Zelle des Grauens. Exzesse der Gewalt liegen hinter ihm. Als er sich vor 26 Jahren freiwillig stellte, begann sein Trip in die Hölle, deren glühendem Feuer er seitdem nicht mehr entrinnen kann.
Verfolgt und recherchiert man die Geschichte dieses Mannes, der zu
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