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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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fallen.
    Gegen zwei, er war in seinen Sachen bei laufendem Fernseher eingeschlafen, läutete das Zimmertelefon. Er nahm ab und hörte eine angenehme Stimme auf Russisch fragen: « Вам не скучно? Хотите компанию? Молодая девушка ?» – Hätten Sie nicht Lust auf ein wenig Entspannung mit einem jungen Mädchen? Er kannte diese Anrufe. Beim ersten Mal, vor Jahren in einem Moskauer Hotel, war er aus dem Schlaf hochgeschreckt, hatte nach dem Lichtschalter getastet und nicht gewusst, wo er war. Er suchte lange mit der Hand nach dem Telefonhörer und begriff, als er ihn endlich hatte, nicht, wer zu ihm sprach. Dem verwirrt hingestotterten Ja schickte er, als es schon fast zu spät war, ein Nein hinterher.
    Diesmal sagte er einfach: « Да, пожалуйста .» – Ja, bitte. Und er staunte über sich selbst. Erklären brauchte und wollte er sich nichts. Das hier hatte nichts von Muschters «Man gönnt sich ja sonst nichts», wenn er von einem Taucherurlaub auf den Malediven oder anderen luxuriösen Freizeitvergnügen erzählte. Vielleicht war es die aufsässige Lust, noch tiefer in ein anderes Leben hineinzugreifen und es zur Preisgabe von Geheimnissen zu provozieren.
    Als Konrad den Hörer aufgelegt hatte, fiel er wieder in einen halben Schlummer, so hätte er ohne weiteres die ganze Nacht durchschlafen können. Er hörte weder den Fahrstuhl noch die Schritte auf dem dicken Teppich im Flur. Wie aus dem Nichts pochte es an der Tür, ganz leise. Er öffnete und huschte mit einem Satz auf die Decke zurück. Das Mädchen kam herein, breitete ihre Jacke über die Sessellehne und setzte sich an den Bettrand. Sie hatte ein sympathisches, weiches Gesicht. Er legte ihr eine Hand auf den Schenkel. Der Muskel, schmal wie der eines Kindes, spannte sich und ließ wieder locker, sodass er durch die Strumpfhose die zierliche Kniescheibe ertasten konnte. Das Licht war gedämpft, nur die gelbe Nachttischlampe leuchtete. Das Mädchen duftete nach Schminke, ihr Mund schmeckte nach Zigaretten.
    Im Fernseher lief eine Kaffeereklame, eine tiefe Männerstimme raunte von «nižnist smaku», von der Zärtlichkeit oder Zartheit des Geschmacks, während ihm das Mädchen mit ihrer Zunge, rau wie ein Reibeisen, über den Mund fuhr. Vielleicht kamen ihm die Wörter deshalb so merkwürdig vor, weil er gerade mit einem lebendigen Menschen verschmolz.
     
    Nachher ging sie nicht gleich. Vielleicht nutzte sie die Gelegenheit, dem Druck ihrer Arbeit zu entkommen und sich ein paar Minuten bei ihm auszuruhen. Er zweifelte nicht an ihrer Behauptung, dass sie auf diese Weise ihr Jurastudium verdiene. Er zweifelte auch nicht an ihrem Alter, einundzwanzig Jahre, oder daran, dass sie nächstes Jahr ihr Diplom machen wollte. Sie blieb einfach neben ihm liegen, steckte sich eine Zigarette an und redete wie eine alte Bekannte.
    «Und was tust du?», fragte sie irgendwann.
    «Ich suche ein Auto.»
    Als sie weg war, lag er fast bis zum Morgengrauen wach. Die haarigen grauen Wolldecken hatte er in den Schrank zurückgelegt. Es war so schon zu warm. Er starrte an die Zimmerdecke. Er hatte sich gewaschen, doch ein Gefühl von Klebrigkeit war geblieben. Er lauschte auf die Geräusche von draußen. Versuchte, sich abzulenken, indem er die bisherigen Informationen zusammenfügte. Er versuchte immer, seine Fälle im Kopf zu lösen. Versuchte auch diesmal, ein Bild in den vorhandenen Informationen zu erkennen, ein Muster. Sobald er dieses Bild erkannt hätte, wüsste er, nach welchen Spuren vor Ort er zu suchen hätte.
    Muschter. Konrad hatte nicht die paranoische Neigung, zufälligen Namensähnlichkeiten tiefere Bedeutung beizumessen. Dabei arbeitete das Computerprogramm, das man ihm in der Zentrale in Köln vorgeführt hatte, genau nach diesem Schema. Es durchforstete die Datenbestände nach wiederkehrenden Mustern. Er ärgerte sich damals, dass man ihm ausgerechnet dieses Programm nicht näher hatte erklären wollen. Soweit er verstanden hatte, ging es dabei um das Übereinanderlegen
von Strukturen, das Erkennen von Wiederholungen. Wenn zwei Gegner einer Autokollision oder eines Unfalls öfter in den Schadensmeldungen auftauchen oder gar am selben Ort gemeldet sind, deutet das auf fingierte Zusammenstöße hin. Das waren die allereinfachsten Anhaltspunkte. Es gab gewiss andere, von denen man ihm nichts gesagt hatte, weil man nicht wollte, dass sie sich herumsprachen. Das Programm legte die Informationen der einzelnen Fälle

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