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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Haus in der Altvaterstraße vorbeizukommen, aber nie geklingelt, immer hatte er sich im letzten Moment bezwungen. Irgendwann hatte er dann doch auf den Knopf gedrückt. Schließlich war es der Bruder seiner Mutter, auch wenn diese ihn nicht mehr interessierte. Sie hatte ihn vor dreißig Jahren alleingelassen. Aber jetzt, da auch sein Vater gegangen war, fühlte er sich mutiger und unabhängiger und wollte wenigstens einmal mit dem Verrufenen reden.
    «Liebe machen mit der Wirklichkeit», dachte Konrad jetzt auf der regennassen Fernstraße vor Warschau, eingekeilt zwischen schweren Lkws. In dem Moment fing der Citroën an zu stottern, wie aus Protest. Links und rechts rauschten schon länger quadratische Walmdach-Bungalows im Stil italienischer Landhäuser vorbei, einsam in die freie Flur gestreut. Der Plakat- und Schilderwald am Straßenrand wurde dichter. Konrad konnte den Wagen gerade noch an den Seitenstreifen lenken. Es war vermutlich nicht Jaceks Schuld, es lag wohl an den Franzosen, aber Jacek hätte das sofort wieder hinbekommen. Konrad, der Autojäger, hatte von Fahrzeugmechanik keinen Schimmer. Diese Panne änderte seinen Plan. Er musste um Hilfe bitten und den Wagen in eine Garage im Zentrum schleppen lassen. Am Warschauer Zentralbahnhof stieg er in den Zug, die trockene, heiße Luft des Abteils ließ ihn sofort in einen tiefen Schlaf fallen, aus dem er immer nur erwachte, wenn die Schiebetür aufgerissen wurde und die Grenzpolizisten oder Zöllner ihre fahlen Gesichter ins Licht der Deckenfunzel streckten.

[zur Inhaltsübersicht]
    Zwei
    Als er neunzehn Stunden später am Hauptbahnhof von Kiew ausstieg, schlug ihm durch die geöffnete Zugtür eine noch größere Hitze entgegen. Als wäre er irrtümlich nach Rom gefahren. Massen von Reisenden strömten mit ihm auf den Bahnhofsvorplatz, viele schleppten unförmig große, rechteckige Plastiktaschen, blau-rot gestreift und mit einem Reißverschluss verschlossen. Hier quirlte das Leben. Aus Buden auf den Bürgersteigen wehte der Duft von Brathähnchen und Pommes frites, Frauen riefen private Übernachtungsmöglichkeiten aus, wollten alles Mögliche verkaufen. Muschter hatte ihn vor den Kiewer Taxifahrern gewarnt und ihm eine verlässliche Firma genannt. Konrad fand den Zettel nicht, stieg in das nächste Fahrzeug und nannte das von Muschter empfohlene Hotel. Der Schiguli tuckerte zwischen schattigen alten Mietshäusern die breite Allee der Schewtschenkostraße bergan, bog in den Kreschtschatik ein und erreichte an dessen nördlichem Ende den Europäischen Platz.
    Konrad checkte ein, brachte seine Reisetasche aufs Zimmer, duschte und begab sich gleich darauf zu Fuß auf die Suche nach dem großen Wasser, dessen Geruch bis hierher drang. Er stieg die Treppen vom Wolodymyrski Projizd rechts hoch. Unter dem Rundbogen des Denkmals leuchtete der Fluss in der westlichen Nachmittagssonne.
    Es war erst Mai und schon fast so warm wie im Sommer, viel wärmer als in Berlin. Schon am Kreisverkehr war ihm der Duft des Flieders in die Nase gestiegen, jetzt sah er, dass auch die Kastanienblüten sich öffneten. Er wollte nach unten ans Ufer des Dnjepr, verirrte sich aber auf den einsamen, abgesunkenen Betonwegen am Steilhang. Als weit und breit gar niemand mehr zu sehen war, kehrte er um und fand den Weg zum Wasser.
    Unter der Dnjeprbrücke schienen dunkle Wirbel sich selbst zu verschlingen. Ein Schwimmer wäre in die Tiefe gerissen worden, selbst ein Ausflugsdampfer mittlerer Größe wich den unheimlichen, trägen Strudeln aus.
    Am anderen Ende der Brücke erreichte er die Insel. Erste Sonnenbadende lagen schon am sandigen Strand. In kleinen Holzbuden mit umzäunten Gärtchen wurden Bier und andere Getränke verkauft, aus den Lautsprechern klagten die verminderten Septimen der postsowjetischen Popmusik. Alles so traurig, die Geliebte so fern. Vom Fluss wehte eine kühlende Brise. Sein Blick wanderte stromabwärts, nur ein paar Kilometer, und man wäre in der Steppe. Er stellte sich vor, er würde sein Floß den Strom hinab und dann ans flache Ostufer treiben lassen, und schließlich den Fuß auf das harte, kurze Rispengras setzen. Konrad atmete auf. Dieser Ort und die Weite taten ihre Wirkung. Eigentlich wurde es Zeit, ins Hotel zurückzugehen.
    Er hatte für den Tag keine Pläne mehr. Morgen sollte er den Anwalt treffen, ohne seine Unterstützung konnte er nicht viel ausrichten. Die wichtigsten Anhaltspunkte waren der Name und die Adresse von Jurij Solowjow, dem

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