Der wahre Sohn
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Eins
Ganz früh am Morgen aufstehen, wenn im ersten Tageslicht die Spatzen loslegen. Die Vögel singen heller, wenn alles ruhig ist. Nach der gepackten Reisetasche greifen, nicht richtig ausgeschlafen und doch wach und ein bisschen wie verkatert, obwohl man nicht viel getrunken hat am Abend, die Wohnungstür zuschlagen und die Treppen hinuntergehen, durch diesen Geruch von Bohnerwachs und undefinierbarem Eintopf, die Tasche auf den Rücksitz des Wagens werfen, einen letzten Blick hoch zu den Fenstern im dritten Stock des Mietshauses, in denen sich das rosigblasse Blau des frühen Wolkenhimmels spiegelt, sodass fast nichts dahinter zu erkennen ist, kaum das Grün der Zimmerpflanzen, zwei große Gummibaumblätter an der Scheibe, dann hinters Lenkrad steigen, den Zündschlüssel nach rechts drehen, über diesen kleinen Widerstand hinaus, und gespannt zusehen, wie der Benzinzeiger die Skala hochklettert. Den Motor anlassen und eine Weile dem gleichmäßigen, tiefen, fast: gesunden Geräusch der Zylinder lauschen, die ihr Gas in die Straßen blasen. Die Kraft von Generationen steckt in dieser Maschine, dieser beeindruckenden Frucht der Arbeitsteilung. Die schützende Scheibe herunterkurbeln und kühle Morgenluft hereinlassen. Wissen, dass es kein Zurück gibt. Onkel Wolfgang konnte schon tot sein.
Es ist noch nicht Marlenes Zeit. Sie schläft noch. Erst später am Vormittag wird sie aufstehen und die Zeitung aus dem Briefkasten holen. Bei dem Gedanken daran, wie oft er sie aus der Wohnung hat treten sehen, senkt sich sein Fuß zwei Zentimeter tiefer aufs Gaspedal. Er sieht sie die Treppe hinuntergehen, so wie sie sie tausendmal hinuntergegangen ist, sie hält den Morgenmantel mit der Hand zusammen, der Gürtel ist verloren, vor Jahren bei einem Skiurlaub in Österreich. Dabei trägt sie Hausschuhe. Als würde ihr bloßes Erinnerungsbild die Macht haben, ihn aufzuhalten, als könnte diese Gedankenfigur ihn zurückziehen wie eine wortlos ausgestreckte Hand, zurück in die Stadt, in diese Wohnung, und er würde sich von der weißen Haut des Bauches zwischen den auseinanderwehenden Bademantelschößen zum tausendsten Mal verführen, dann überreden lassen. Dann würden die Gespräche von neuem beginnen, die endlosen Diskussionen der letzten Wochen und Monate. Über ihre Beziehung. Dass da jede Entwicklung fehlte. Dass sich nichts mehr tat …
Spricht eine Frau von Entwicklung, dann ist es schon zu spät. Dann geht es bald zu Ende. «Zwischen uns
entwickelt
sich nichts mehr.» Er lauschte dem gleichmäßigen Summen des Motors und dachte: Was soll sich, verflucht, entwickeln, wenn doch alles gut läuft? Die Erinnerung an solche Gespräche brachte ihn in Wut. Und als sich einmal wirklich bei ihr etwas entwickelte, im Bauch, hat sie es weggemacht. Ihre krakelige Unterschrift unter der Einwilligungserklärung hat er noch in der Schublade.
Mit fast neunzig durchrauscht er die Frankfurter Allee Richtung Osten, in der bitteren Genugtuung, ihr jetzt zumindest schon fast entkommen zu sein, wieder einmal. In Lichtenberg erwacht die ehemals herrschende Klasse der DDR . Solange er in Berlin ist, ist er noch nicht ganz gerettet. Er hat im Laufe der Jahre verschiedene Fluchten gewagt. Er wollte sich auf die Kehrseite des Lebens verdrücken. Hat lange als Nachtwächter gearbeitet. Ist für ein paar Wochen zu Günter gezogen, nach Prenzlauer Berg, tief in den Osten, hat sich dort versteckt. Es half alles nicht.
Er musste endlich richtig weg. Muschters Anruf kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Marlene wird nicht gleich zusammenbrechen. Sie wird nicht denken, dass es für immer ist, er verlässt sie ja nicht zum ersten Mal. Sie wird heute dasselbe tun wie an jedem Tag. Noch bevor sie mit der Zeitung wieder in ihrer Wohnung ist, wird der Wasserkessel auf dem Gasherd pfeifen. Dieses gedämpfte, aber unüberhörbare Zischen, so beruhigend wie das Läuten von Kirchenglocken. Sie wird mit einem Becher löslichen Kaffees zurück ins Bett steigen, sanft und weißhäutig und in Gedanken versunken, mütterlich und verständnisvoll, wahrscheinlich fühlt sie sich gut, vielleicht sogar moralisch überlegen, sie wird Konrads Flucht hinnehmen wie einen tollen Jungenstreich und vielleicht in sich hinein lächeln, sie wird Verständnis für ihn zeigen wie für das trotzige Kind, das sie nie hatte. Weil sie zu wissen glaubt, dass er am Ende wieder zurückkommen wird. Sie wird die
taz
lesen, wird sich wohlfühlen und sich ein paar
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