Der Wanderchirurg
überlegen: Arlette ist eine Cousine von dir, und zwar eine, Augenblick ...«, er rechnete mit gerunzelter Stirn nach, »eine Cousine sechsten Grades. Sie ist die einzige Tochter meines Sohnes Richard, der vor nunmehr sechzehn Jahren auf See blieb. Seine Frau Anne, eine geborene Gifford, starb zu dieser Zeit im Kindbett bei der Geburt ihrer zweiten Tochter. Das kleine Wesen überlebte ebenfalls nicht, sodass Arlette fortan nur mich hatte. Ich war Großvater und Vater in einem für sie. Dazu Freund und Vertrauter. Habe ihr sogar die ersten Tanzschritte beigebracht. Hier im Kaminzimmer war's, ich weiß es noch wie heute. Ja, meine Arlette ...« Der alte Herr seufzte abermals. »Die schönen Jahre, wo sind sie geblieben?« Er griff zum Weinpokal und stöhnte auf, denn seine Bewegung war zu hastig gewesen.
»Wartet, Onkel, ich helfe Euch.« Vitus stopfte ihm ein Kissen in die Seite, damit er wieder schmerzfrei sitzen konnte.
»Danke, Junge. Doch nun zu dir und dem Geschlecht der Collincourts. Es ist normannischen Ursprungs. Der Stammbaum unserer Familie lässt sich bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen. Zum ersten Mal in das Gesichtsfeld der Geschichte jedoch traten wir in der Gestalt von Roger Collincourt, der mit Wilhelm dem Eroberer über den Kanal setzte und am 14. Oktober anno 1066 die Schlacht auf dem Senke Hill schlug, eine Schlacht, die auch als Battle of Hastings bekannt ist. Dabei stritt Roger neben Toustain le Bec, der das Petrusbanner schützend über Wilhelm hielt. Es war ein grausames, blutiges Treffen, bei dem es auf beiden Seiten unzählige Tote gab. Schließlich siegte die größere Feldherrnkunst Wilhelms über König Harald und seine schwer bewaffneten Housecarts.
Solltest du in späteren Tagen einmal die französische Stadt Bayeux aufsuchen, kannst du dort einen Wandbehang betrachten, der weit über zweihundert Fuß lang ist und den Auszug der Normannen und ihre Eroberung Englands in kunstvoll gestickten Bildern zeigt. Auf diesem Teppich wirst du auch Roger Collincourt entdecken, deinen streitbaren Urahn, dessen Blut in dir rollt, denn du bist der vierzehnte Collincourt in direkter Linie.«
»Und was ist mit Jean, meiner Mutter?«, fragte Vitus, der wie gebannt zugehört hatte.
»Um dir mehr über Jean zu erzählen, überspringe ich am besten viele Generationen und beginne mit deinem Urgroßvater. Er hieß James Collincourt und war ein großer Seefahrer und Entdecker. Sein Schiff hieß Sparrow, es war eine Karavelle, die zu ihrer Zeit einige Berühmtheit erlangte und deshalb von mehreren Künstlern gemalt wurde. Allerdings: Wie das von dir erwähnte Seestück der Sparrow nach Santander in dieses Gasthaus gelangte, weiß
der Erhabene allein ... Doch zurück zu James Collincourt: Er hatte mit seiner Frau zwei Söhne: William und mich, Odo. Während ich mit meiner Frau Mary, sie möge in Frieden ruhen, nur den einen Sohn Richard bekam, der Arlettes Vater werden sollte, hatte mein Bruder William zwei Kinder: Jean, deine Mutter, und Thomas. Thomas wurde anno 1531 geboren und fuhr schon als Zwanzigjähriger über das große Westmeer, auf eine Insel namens Roanoke Island, wo er sein Glück als Tabakpflanzer machen wollte. Jean kam anno 1534 zur Welt. Sie war ein wunderschönes Mädchen, in vielerlei Hinsicht ist Arlette ihr ähnlich. Als Jean Anfang zwanzig war, verliebte sie sich in einen Burschen aus Worthing, ein Umstand, von dem die Familie zunächst nichts wusste, der jedoch nach wenigen Monaten unübersehbar wurde: Jean war schwanger und wollte um nichts in der Welt den Namen des Vaters preisgeben. Du kannst dir vorstellen, wie hoch damals die Wogen in der Familie schlugen. Nach langem Hin und Her erklärte Jean sich schließlich bereit, zu Thomas in die Neue Welt zu gehen und sich dabei standesgemäß von Lord Pembroke begleiten zu lassen. Thomas hatte geschrieben, dass er drüben sehr erfolgreich sei und dass unter den englischen Pflanzern ein großer Wunsch nach heiratsfähigen Frauen aus der Heimat bestünde - eine gute Gelegenheit für Jean also, sich dort zu verehelichen und dem Kind einen anständigen Namen zu geben. Und dieses Kind, Vitus ...«
»... bin ich?«
»So ist es. Oder vielmehr: So müsste es sein. Denn heute Nachmittag, als ich über alles nachdachte, fiel mir ein, dass man Jean auf ihrem Weg durch Spanien das Damasttuch auch entwendet haben könnte und dass es, theoretisch zumindest, an anderer Stelle mit einem anderen Säugling darin wieder aufgetaucht ist.«
»Eine
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