Stimmen aus dem Nichts
Stimme aus dem Nichts
Der Schrei klang nach purer Angst. Die WC-Tür wurde aufgerissen und eine ältere Dame stürzte mit schreckensbleichem Gesicht in die Arztpraxis. Dort prallte sie mit Justus zusammen. Er fing sie förmlich auf, denn um ein Haar hätte sie das Gleichgewicht verloren. Noch bevor Justus überlegen konnte, wie er die Situation in den Griff kriegen könnte, kam die Sprechstundenhilfe hinter ihrem Tresen herbeigeeilt und fasste der nach Luft japsenden Frau mit geübten Händen unter die Arme.
»Kommen Sie, Mrs Holligan! Bleiben Sie ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung.« Die Worte aus dem Mund der Sprechstundenhilfe klangen emotionslos. Als interessierte es sie gar nicht, weshalb die alte Dame derart aufgebracht war. Ihr schien nur wichtig zu sein, dass keine Unruhe im Wartebereich vor ihrem Tresen entstand. Dort saßen die Patienten dicht gedrängt auf unbequemen Stühlen und nahmen neugierig, jedoch wortlos Anteil am Geschehen.
»Sie. . . sie. . . war es wirklich!« Die alte Dame zitterte am ganzen Leib. Angstschweiß hatte sich auf ihrer Stirn gebildet.
Die Sprechstundenhilfe, Schwester Petersen, führte sie zu einem Stuhl. Mrs Holligan weigerte sich jedoch, sich zu setzen. »Die Stimme. . . ich habe sie ganz deutlich gehört. Meine Schwester. . . Sie hat zu mir gesprochen.«
»Wo? Auf dem Klo?« Die Frage klang so ironisch, dass einige der Patienten im Wartezimmer anfingen zu grinsen oder verschämt auf den Fußboden starrten.
Justus versuchte jede Einzelheit zu erfassen, die zwischen der Sprechstundenhilfe und Mrs Holligan ausgetauscht wurde. »Behandeln Sie mich nicht so, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank! Ich weiß genau, was ich gehört habe! Meine Schwester –« Bevor sie den Satz jedoch zu Ende sprechen konnte, musste sie noch einmal kräftig schlucken. »Sie hat... sie hat zu mir gesprochen.« Mrs Holligans Lippen begannen unkontrolliert zu zittern und ihre Augen blickten Hilfe suchend in die Runde der wartenden Patienten, von denen die meisten jetzt jedoch peinlich berührt ihre Nasen in die ausliegenden Zeitschriften steckten.
Mrs Holligans Augen füllten sich mit Tränen. Justus lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er konnte nachempfinden, wie sich jemand fühlen musste, der von niemandem ernstgenommen wird.
Mrs Petersen wusste sich jetzt nicht mehr recht zu helfen. Sie eilte mit schnellen Schritten hinter den Anmeldetresen und drückte auf einen Knopf der Sprechanlage. Einige Sekunden geschah nichts. Dann ertönte aus dem Lautsprecher ein Knacken. »Ja, bitte?« Die Frauenstimme aus der Sprechanlage klang kalt und zugleich sehr beschäftigt.
»Entschuldigen Sie die Störung, Dr. Franklin, aber ich glaube, Mrs Holligan bräuchte dringend Ihre Hilfe.«
Mittlerweile hatte sich vor ihrem Tresen eine Patientenschlange gebildet, die ungeduldig auf ihre Rezepte und neue Terminabsprachen wartete, während die Stimme aus dem Lautsprecher abweisend erwiderte: »Ich bin mitten in den Vorbereitungen für eine Hypnose, Mrs Petersen. Ich schicke Ihnen jemanden raus. Geben Sie Mrs Holligan einen Termin für heute Nachmittag und stören Sie mich jetzt bitte nicht in meiner Sitzung.« Wieder knackte es im Lautsprecher. Die Verbindung zu Dr. Franklin war beendet. Im selben Moment öffnete sich die Tür zum Sprechzimmer und eine Frau im weißen Kittel ging zielstrebig auf Mrs Holligan zu, die erschöpft auf einen Stuhl gesunken war. Das Namensschild wies sie als Dr. Miller aus.
»Mrs Holligan, was bedrückt uns denn?« Ruhig und entspannt ergriff die Ärztin die Hand der Patientin und zog ein Papiertaschentuch aus ihrem Kittel. Dankbar faltete Mrs Holligan das Taschentuch auseinander, rieb ihre Augen trocken und putzte anschließend mit einem lauten Schnauber ihre Nase. Dann zeigte sie mit zitternden Fingern auf die WC-Tür. »Ich habe es mir nicht eingebildet. Auch wenn Mrs Petersen anderer Meinung sein sollte. Ich habe sie tatsächlich gehört. Sie hat mit mir gesprochen. Und ich habe sie so deutlich verstanden, wie ich Sie jetzt höre.«
»Moment, Moment. . .« Dr. Miller schien irritiert und versuchte einen Augenkontakt zu Mrs Petersen herzustellen. Doch diese widmete sich nun voll und ganz den Patienten vor dem Tresen und blickte von ihrer Arbeit nicht mehr hoch.
»Sie glauben mir nicht. Niemand glaubt mir!« Mrs Holligans Augen füllten sich wieder mit Tränen. Justus spürte, dass sie ein weiterer Weinkrampf befallen würde, und entschloss sich einzugreifen.
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