Der Wandermoerder
Fahrrädern, die die Mittelklasse im Sturm erobert hatten. Vor allem den Frauen eröffnete das Fahrrad die Möglichkeit, unabhängiger zu werden. Plakate und farbige Zeitungsanzeigen – ebenfalls Innovationen jener Zeit – stellten Kundinnen als befreite Göttinnen dar, die auf ihren Fahrrädern nackt durch den Himmel flogen.
Doch mitten im allgemeinen Optimismus gab es auch Angst. Auf jede glückliche, wohlhabende Familie kamen viele andere, die in Armut und Elend lebten. Jeder spürte die Instabilität, das Donnergrollen von unten. Der Anarchismus, eine internationale terroristische Bewegung, wurde immer stärker: Bomben explodierten auf Märkten, in Regierungsbüros und Bahnhöfen. Die Behörden antworteten mit brutaler Unterdrückung, was wiederum zu Vergeltungsschlägen führte. Ende des Jahrhunderts legten die Anarchisten ihre Bomben überall in Europa und ermordeten die Präsidenten Frankreichs und der USA. Für einige Intellektuelle war die moderne Gesellschaft mit ihren vulgären Vergnügungen und ihrem avantgardistischen Lebensstil ein Beweis dafür, dass die Spezies Mensch verweichlicht war, dass eine Umkehr der Evolution und eine soziale Degeneration stattfanden.
Die Kriminalität nahm zu, und die neue Sensationspresse schürte die Angst der Bevölkerung. Nicht nur die Verbrechen selbst erschreckten die Menschen, sondern auch die Entstehung einer kriminellen Klasse. Die Londoner lernten das »residuum«, den »Bodensatz«, fürchten, die New Yorker erlebten den Aufstieg ethnischer Straßenbanden, und die Pariser mieden die »Apachen«, umherziehende Jugendbanden, die Leute aus der Oberschicht bedrängten, wenn sie sich abseits der ausgetretenen Pfade bewegten. Legionen von Besitzlosen – Landstreicher, Straßengangs und Kriminelle, die aus Irrenhäusern geflohen waren – hatten es anscheinend auf die braven Bürger abgesehen.
In diesem Klima der Hoffnung und der Furcht begannen Experten in verschiedenen Ländern, das Verbrechen wissenschaftlich zu erforschen. Wie die anderen großen Denker jener Zeit betrachteten sie Kriminalität nicht als Sünde oder Teufelswerk, sondern als wissenschaftliche Herausforderung – schließlich lebten sie ja im Zeitalter der Wissenschaft. Mediziner, Juristen, Psychologen und Anthropologen richteten Institute ein, um die Kriminalität zu untersuchen. Sie veröffentlichten ihre Erkenntnisse in Fachzeitschriften und diskutierten ihre Theorien auf internationalen Konferenzen.
Sie waren die ersten modernen Kriminologen und entwickelten Techniken, deren sich die Kriminalistik bis heute bedient. Sie brachten Ordnung ins Chaos der Tatorte, indem sie Messungen vornahmen, Schleifspuren, Abdrücke und Fasern untersuchten, methodisch obduzierten und biologische Proben sammelten. Psychologen – Vertreter einer neuen Wissenschaft – begutachteten Verdächtige und befragten sie nach der Festnahme ruhig und effizient – ganz im Gegensatz zu den brutalen Methoden ihrer Vorgänger. Um Muster im Verbrechen zu entdecken, legten sie Datenbanken an und erstellten Statistiken. Sie sezierten Gehirne hingerichteter Verbrecher und suchten nach den Wurzeln deren Verhaltens. Ihre Forschungen lieferten eine Fülle an Material für Diskussionen, die einst Priestern und Philosophen vorbehalten waren: Welche guten und bösen Neigungen hatte der Mensch von Natur aus? Was beeinflusste diese Neigungen? Wo endete der freie Wille, und wo begann der Wahn? Konnte man den Drang, Böses zu tun, verstehen, vorhersehen, umlenken oder heilen?
Die Ärzte in Saint-Robert begegneten ihrem neuen Patienten freundlich, und er schien dies zu erwidern: »Als ich hier ankam, glaubte ich, im Paradies zu sein«, schrieb er in einem Brief an Dr. Dufour, den Direktor. Später berichtete er in einem langen Brief an Louise (der er bis ans Ende seines Lebens schrieb) von seiner Freude nach der Ankunft in der neuen Anstalt:
Stell dir meine Überraschung vor … Der Zug fuhr durch ein kleines Tal, das von schneebedeckten Bergen umgeben war, und da war es, funkelnd im Licht des Mondes … diese saubere, elektrisch beleuchtete Einrichtung (denn ich traf nachts ein). Die Haustür öffnete sich, und vor mir standen zwei Freunde, während ich Henker erwartet hatte. Wir gingen durch einen Garten, der schöner war als jeder Garten in Grenoble.
Sie brachten mich in ein Gebäude, das von Gesindel bewohnt wurde; aber sie waren nicht mit den lebenden Toten [in Dole] zu vergleichen. Während wir in Dole von Wärtern umringt waren,
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