Der Wandermoerder
dem Bahnsteig probierte er seinen »Uriniertrick«, aber die Wärter packten ihn sofort und legten ihm Hand- und Fußfesseln an. Im Zug bemühte er sich, für möglichst viel Unruhe zu sorgen. In einem Waggon dritter Klasse zwischen den Wärtern sitzend, wand er sich hin und her und versuchte, sich zu befreien. Als das misslang, kreischte er anarchistische Parolen und beschwerte sich lautstark über seine Behandlung in Dole – vor allem dann, wenn an Bahnhöfen viele Menschen durch den Zug liefen. Er tobte derart, dass einige Frauen sich ängstigten und weinten.
Vachers Reiseziel, das Irrenhaus Saint-Robert, war »eine der besten Anstalten Frankreichs«, wie es in einem zeitgenössischen britischen Bericht über Krankenhäuser und Irrenanstalten heißt. Es war auf dem Gelände eines alten Klosters gebaut worden und bot den Insassen einen majestätischen Blick auf die Alpen und frische Bergluft. Die Anstalt war auf der Basis der neuesten psychologischen Theorien geplant worden und wollte den Patienten ein normales Leben ermöglichen, anstatt sie einfach wegzusperren. Es gab separate Wohnhäuser für Frauen und Männer und in der Mitte ein Gebäude für alle, jeweils im neoklassischen Stil. Jenseits der Hauptgebäude erinnerten Häuser, Straßen, Bäume und bebaute Felder an ein malerisches Dorf. Der gesamte Komplex, vom Erscheinungsbild über die Architektur bis zur Einstellung des Personals, hatte das Ziel, den Insassen ein frohes und gutes Leben zu ermöglichen.
Auch das Personal war freundlich. Im Gegensatz zu ihren Kollegen in anderen Anstalten benutzten die Ärzte in Saint-Robert Zwangsjacken nur zwei- oder dreimal im Jahr und nur »zeitweilig in Ausnahmefällen, wenn klar ist, dass der Patient sich selbst verletzen würde«, wie der Direktor, Dr. Edmond Dufour, einer Ärztegruppe erläuterte, die das Haus besuchte. Im Saint-Robert verzichtete man auf übliche Praktiken wie eiskalte oder »schottische« (abwechselnd heiße und kalte) Duschen, um Patienten zu disziplinieren. Nicht einmal gewalttätige Insassen wurden gefesselt. Stattdessen wurden sie mit Arbeiten wie Flicken und Nähen beschäftigt, die das Selbstwertgefühl steigerten, sowie mit Musik und Theateraufführungen. Das Personal sprach immer respektvoll und nett mit ihnen. Das alles sollte die Würde der Patienten wiederherstellen und an ihre Vernunft appellieren.
Darum wurde auch der Mann, der am 21. Dezember 1893 spätabends eintraf und dessen Gesicht ein Leben voller Gewalt widerspiegelte, fürsorglich und menschlich behandelt. Da man wusste, dass er selbstmordgefährdet war, wurde er zwar im Hochsicherheitstrakt, aber in einem Zimmer mit Aussicht auf die Berge untergebracht. Das sollte ihn beruhigen. Und tatsächlich besserte sich sein Befinden schon nach knapp 24 Stunden. Offenbar sprach er auf die freundliche Atmosphäre an, denn vor dem Abendessen stand er auf und schlug ein gemeinsames Gebet vor: »Liebe Freunde, lasst uns Gott dafür danken, dass wir in einer Gegend geboren wurden, wo unsere Betreuer so nett und menschlich sind. Gott sei Dank wurden wir unter einer so gütigen Sonne geboren.«
Diese Worte schienen eine innere Sanftheit auszudrücken und waren ein hoffnungsvolles Zeichen für die Genesung des Patienten. Niemand, der sie hörte, konnte sich vorstellen, wie irreführend sie waren.
Joseph Vacher lebte in einer Ära der Erwartung und der Furcht. Die Belle Époque Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war eine Zeit des Friedens und Wohlstands sowie der wissenschaftlichen und künstlerischen Fortschritte. Sarah Bernhardt ließ die Bühne erstrahlen, Toulouse-Lautrec und Degas erleuchteten die Welt der Kunst, Gustave Eiffel baute seinen Turm, und Louis Pasteur entdeckte, dass Mikroorganismen Infektionen auslösen können.
Alles schien größer, schneller, neuer und effizienter zu werden. Das neue Eisenbahnnetz beförderte Passagiere im Eiltempo quer durch Kontinente, und Dampfschiffe brachten sie rasch übers Meer. Telegrafendrähte übermittelten Nachrichten mit Lichtgeschwindigkeit durchs ganze Land und wurden sogar im Atlantik verlegt. Die Olympischen Spiele erlebten ihre Wiederauferstehung, und das Kino wurde geboren. Moderne Varietés wurden in Paris eröffnet und präsentierten einen lebhaften neuen Tanz, den Cancan.
Endlich konnten die Menschen versuchen, das Leben zu genießen, anstatt es nur zu erdulden. Sie kauften in schönen Warenhäusern ein, besorgten sich die neuen Kleider von der Stange und fuhren mit
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