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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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beantwortete.
    Mit der realen Welt kam auch
mein gründlich gelernter Sinn fürs Pragmatische zurück; so konnte ich der
Versuchung nicht widerstehen, die Ballade für meine privaten Zwecke zu
plündern.
    Ich war damals einer drei Jahre
älteren Studentin, wie mir schien, unheilbar verfallen, die sich ihr Studium
als Fernsehansagerin verdiente, was mich einerseits — verräterische
Kollaboration mit dem Establishment! — ein bißchen abstieß, andererseits aber,
als gleichsam offizielle Bestätigung ihres hohen Marktwerts in punkto
Schönheit, heftig zu ihr hinzog.
    Nach ein paar Abenden mit Wein,
Käsekrainern und selbsterzeugten Gedichten an der Böschung der Donau — sie
durfte sogar auf meinem PLO-Tuch sitzen, um ihren teuren Rock nicht dreckig zu
machen — hatte sie mein unzivilisiertes sexuelles Drängen zum ersten Mal
»irgendwie süß« gefunden und, den Geruch der halbvergorenen Früchte meiner
literarischen Arbeit in der Nase, den Sturm für den Wein genommen. Ich weiß
noch, wie zwei Blindschleichen, ich nannte sie »Angst« und »Gier«, meine Füße
hochkrochen, als sie mir anbot, sie in ihre Garconniere zu begleiten, und ich
erinnere mich auch noch an den Moment, in dem die Schleichen sich in
Brillenschlangen verwandelten.
    Sie schloß die Tür hinter uns,
hängte mein Tuch über den Heizkörper und warf sofort ihren Designerfummel ab —
allerdings nicht, um für mich, ihren neu erkorenen Geliebten, nackt zu sein.
Innerhalb ihrer Wände konnte sie einfach nicht sprechen, nicht lachen und beim
besten Willen nicht schlafen, ohne den Pyjama ihres Großvaters am Leib zu
haben. Wann immer sie in den nächsten Tagen so vor mir herumlief, graugestreift
eingewickelt in das Nachtgewand eines geliebten Toten, war mir, als hätte ihr
Großvater auch mir etwas vererbt: eine Brille, durch die ich mehr von ihr sehen
konnte als durch die blinden Linsen meines Begehrens. Nicht einmal der Umstand,
daß ich bei ihr ständig Bee Gees hören mußte, und Hendrix oder Ray Davis sie
völlig kalt ließen, konnte mich noch erschüttern.
     
    Schließlich wandte sie sich
einem Studenten mit Waschbrettbauch zu, der — als sei das Schicksal ein
einziger Misthaufen aus Klischees und Treppenwitzen — auch noch begeisterter
Leichtathlet war, und zwar, wenn mich meine Erinnerung nicht auch betrügt,
Spezialist für Mittelstrecken.
    Für sie also kritzelte ich in
jener Berliner Nacht — etwa eine Woche nachdem sie mir ihre Entscheidung für
das Waschbrett verkündet hatte — auf die Rückseite einer Ansichtskarte vom
Wannsee diese Zeilen aus dem Ancient Mariner:
     
    Alone, alone, all,
all alone,
    Alone on a wide wide
sea!
    And never a saint took pity on
    My
soul in agony.
     
    Allein, allein, ganz, ganz
allein,
    Allein auf einem weiten, weiten
Meer!
    Und
kein einziger Heiliger erbarmte sich
    Meiner
Seele in ihrer Qual.
     
    Die selbst Felsen zum Weinen
bringende Wirkung großer Poesie sollte meine Geliebte aus der Unterwelt zurück
ans Tageslicht locken. Als ich die Zeilen hinschrieb, kam ich mir vor, als
hätte mir Orpheus seinen Kugelschreiber geliehen; wenn sie das nicht rührt,
dachte ich, dann rührt sie gar nichts mehr.
    Aber wenn es sie rührt, dann
muß ich dort sein, wo sie ist. Ebenso rasch, wie ich eine Woche zuvor den
Entschluß gefaßt hatte, meine subjektiven Desaster hinter mir zu lassen, um das
objektive Walten der Geschichte zu betrachten, entschied ich mich nun für eine
Rückreise zum Schauplatz meines Liebesdramas. Rein politisch betrachtet
erschien mir mein Berlin-Aufenthalt lang genug, um allen, die es hören wollten,
verkünden zu können, daß ich dabeigewesen war.
    Die Karte von Berlin aus
aufzugeben hätte die Zeitspanne meines bangen Hoffens nur verlängert. So nahm
ich meinen Liebes-Rückeroberungs-Zauberspruch kurzerhand mit nach Wien, wo ich
ihn am Postamt ihres Wohnbezirkes aufgab. Die folgenden Tage verbrachte ich fast
ausschließlich neben dem Telefon. Anrufer wurden angeschnauzt und abgefertigt.
Jeder morgendliche Gang zum Postkasten wurde ein Dramolett mit zwei Akten,
Erwartung und Enttäuschung.
    Der unwiderstehliche Zauber der
großen Gesänge: ich konnte nicht aufhören, daran zu glauben. Aber meine
Eurydike war wohl taub auf diesem Ohr. Oder umgezogen.
    Jedenfalls habe ich nie wieder
etwas von ihr gehört.

Fünf  Dem
Augenblick der Freude folgte das Grauen.
    Denn ohne jeden Wind und ohne Strömung
bewegte sich das Geisterschiff vorwärts. Das Meer im Westen war eine einzige
Flamme, die

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