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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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McAllister war Dozentin
für englische Literatur an der Universität Bristol, Spezialgebiet Altenglisch,
ich kannte sie von diversen Symposien, zu denen sie eine ähnliche Haßliebe
entwickelt hatte wie ich. Hin und wieder hatten wir, kaum daß der letzte Satz
des Abschlußvortrags verklungen war, denselben Fluchtreflex verspürt und uns in
einem Lokal jenseits des Kollegengewimmels wiedergefunden. Ich genoß es, ihr
zuzuhören, wenn der Chablis ihren Wangen ein dezentes Rouge aufgetragen hatte
und ihren Redefluß nicht mehr versiegen ließ.
    Jill liebte einfach alles, was
alt war, Sprachen, Gegenstände, Geschichten — und Wein.
    »Für einen guten Jahrgang würde
ich meine Kinder verkaufen«, pflegte sie zu sagen, »deshalb hab ich
vorsichtshalber gar keine in die Welt gesetzt.« Geboren auf Lewis, einer Insel
der Äußeren Hebriden, war sie schon als Kind mit Mythen und Legenden gefüttert
worden. Mit achtzehn war sie nach Bristol gegangen; bis heute hatte sie die
Universität nicht verlassen. Verheiratet war sie mit einem eher praktisch
veranlagten Mann, der aber sein Geld ebenfalls mit alten Dingen verdiente:
einem Antiquitätenhändler aus Wales. Jill zuliebe hatte er seine Geschäfte von
Swansea nach Bristol verlegt; dort lebten sie nun in einer alten Villa, seit
zwanzig Jahren harmonisch vereint in getrennten Welten.
    Mittlerweile zweiundvierzig
Jahre alt, hatte sich in Jills Augen und den Fältchen um den Mund eine geradezu
spitzbübische Unbekümmertheit erhalten, die einen reizvollen Kontrast bildete
zu ihren vollständig ergrauten Haaren.
    Sie war nicht nur eine Koryphäe
in ihrem Beruf, auch in ihren Hobbys war sie erstaunlich versiert. Als
Amateur-Archäologin und Laien-Anthropologin verfügte sie über ein enormes
Wissen, das sie, wenn ihr danach war, in anekdotische Häppchen gepackt
servierte. Nur bestimmten, auserwählten Zuhörern natürlich; ich hatte das
Glück, mich in diesem Kreis zu befinden. Genug davon, die Linie ist klar: ich
mochte und schätzte Jill und hatte sie früher ein bißchen verehrt.
    Es war zwar eher
unwahrscheinlich, daß Jill ausgerechnet die Geschichte der Culbone Church
kannte; doch sie würde, im Unterschied zu mir, wissen, wo sie danach suchen
sollte. Würde mich nicht wundern, wenn sie binnen kurzem Material aus den
Archiven hervorzauberte, mit dessen Hilfe man die Spur des Ortes
zurückverfolgen konnte bis in die Zeit des Australopithecus. Samt allen sich um
Culbone rankenden Mythen und Legenden. Und mir eine Synopsis der Romance of
Taliesin zu besorgen mußte für sie ein Kinderspiel sein. Falls sie in
Bristol war. Falls sie Zeit für mich hatte. Falls ich telefonieren durfte.
    Henderson gegenüber mußte ich
meine aufgewühlte Gemütsverfassung unbedingt verbergen; er würde sofort ahnen,
daß ich etwas gefunden hatte, das man teuer verkaufen konnte. »Kann ich«,
fragte ich, »bei Ihnen telefonieren?«
    Henderson war immer noch mit
seinen Tieren beschäftigt, als ich zurückkam; er kniete im Hof und striegelte
dem Jagdhund das Fell.
    »Geht klar«, sagte er, »ist ein
Zähler dran.«
    Fand das Telefon, ein
scheußliches fladenbraunes Ding, im Korridor an der Wand. Auf einem Tisch
daneben lag ein Telefonbuch: ich hatte offensichtlich eine Glückssträhne.
»Hallo«, sagte Jill McAllister.
    Die Freude schlug mir auf die
Stimme; ich schwieg eine Spur zu lange.
    »Hören Sie, Mister«, sagte
Jill, »wenn Sie mich belästigen wollen, sollten Sie auf sich aufpassen. Wenn
ich rausfinde, wer Sie sind, komm ich und schneide Ihnen die Eier ab.«
    So war sie, die gute Jill. Nie
um die passende Tonart verlegen.
    »Besser nicht«, sagte ich.
»Markowitsch hier, ohne böse Absichten.«
    »Alexander, alter
Schwerenöter«, rief Jill, sie schien sich aufrichtig zu freuen, »sag bloß, du
bist in der Nähe!«
    »Ja und nein«, sagte ich. »Ich
bin auf einer Farm in West Somerset und brauche deine Hilfe.«
    Gab ihr einen kurzen Abriß der
Lage, eine Art Was-bisher-geschah. Die Träume ließ ich weg; sie sollte nicht
denken, daß die Grundfesten meiner Vernunft brüchig geworden waren. Der Zufall
spielte in meiner Geschichte die tragende Rolle; durch ihn allein hätte ich das
Buch entdeckt. Jill war wie erwartet skeptisch, was die Echtheit der
Handschrift betraf. Und mein brennendes Verlangen, alles über eine alte Kirche
herauszufinden, fügte sich nicht in ihr Bild von mir. Für sie war ich ein
freßsüchtiger alter Heide, für den Rest seiner Tage vor Konvertierung gefeit.
Es gelang

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