Der Weihnachtspullover
Olsen ist eine gute Kundin von uns. Ihr Mann ist vor einem Jahr gestorben, und sie hat es sehrschwer, über die Runden zu kommen. Du hast vollkommen recht, sie hat mir kein Geld gegeben, aber die Menschen, die darauf angewiesen sind, verwenden es wie Geld. Man nennt es Lebensmittelmarken. Unsere Regierung hilft Mrs. Olsen damit, Lebensmittel zu kaufen, bis sie wieder auf die Beine gekommen ist. Wir reden in ihrer Gegenwart nicht darüber, weil es ihr unangenehm ist, andere um Hilfe bitten zu müssen.«
Dad erklärte mir, dass unsere Familie zwar niemals die Hilfe von jemand anderem in Anspruch nehmen würde – besonders nicht von der Regierung –, es aber gute Menschen gebe, die darauf angewiesen seien. Ich hatte sogleich Mitleid mit Mrs. Olsen, mehr noch, ich hatte Mitleid mit allen Menschen, die auf diese Art Hilfe von anderen angewiesen waren. Und ich war froh, dass ich niemals in diese Lage kommen würde.
Einige Monate später erhielt ich die Gelegenheit, meinem Vater zu beweisen, dass ich meine Lektion gelernt hatte.
Mom war wieder einmal unterwegs zur Bank, und ich stand vorn im Laden und legte frische Makronen ins Schaufenster, während Dad die Kunden bediente. Ich bemerkte, wie er abermals diese komisch aussehenden Coupons in Zahlung nahm – dieses Mal von einem Kerl, der damit Brot, einen Obstkuchen und ein Dutzend Plätzchen kaufte. Doch anstelle eines freundlichen Lächelns, netterWorte und Empfehlungen blieb mein Vater vollkommen stumm.
Nachdem der Kunde unseren Laden verlassen hatte, konnte ich meinen Vater fragen, warum. Ich folgte ihm nach hinten in die Backstube. »Was hast du denn, Dad?«, erkundigte ich mich.
»Ich kenne diesen Mann, Eddie. Er ist durchaus in der Lage zu arbeiten, aber er zieht es vor, auf der faulen Haut zu liegen. Jeder, der imstande ist, Geld zu verdienen, hat nicht das Recht, es anderen wegzunehmen.«
Ich begriff mit der Zeit, dass mein Vater, der in armen Verhältnissen aufgewachsen war und sich alles erkämpft hatte, was wir besaßen, immer die Hilfe anderer Leute abgelehnt hatte. Er hatte geschuftet, um sein Geschäft aufzubauen und für seine Familie zu sorgen. Und er war der Überzeugung, dass andere Menschen das Gleiche tun sollten. »Die Regierung ist dafür da, um als Sicherheitsnetz zu fungieren«, so erklärte er mir eines Abends, »aber nicht als Bonbonautomat.«
Ich weiß nicht, ob meine Mutter mit der gleichen Einstellung aufgewachsen war oder ob sie sie während der gemeinsamen Jahre mit meinem Dad übernommen hatte, aber sie empfand genauso. Nun, da er fort war, waren harte Zeiten für uns angebrochen, aber sie weigerte sich, es auch nur in Erwägung zu ziehen, irgendjemanden um Hilfe zu bitten. »Wir werden das schon schaffen, Eddie«,sagte sie immer wieder. »Wir sind zwar im Moment gezwungen, ein wenig bescheidener zu leben, aber es gibt so viele Menschen, die es nötiger haben als wir.«
Mom versuchte, die Dinge wie gewöhnlich optimistisch zu sehen. Dass wir »ein wenig bescheidener« lebten, war eine echte Untertreibung und vermochte nicht im Entferntesten zu beschreiben, wie sparsam wir inzwischen geworden waren. Wenn wir einmal ins Restaurant essen gingen – was nur noch zu ganz besonderen Gelegenheiten vorkam –, ermahnte sie mich, bevor die Kellnerin auftauchte, immer mit den Worten: »Denk daran, keine Milch zu bestellen, Eddie, davon haben wir reichlich zu Hause. Das wäre Verschwendung.«
Aber so dumm war ich nicht. Mit Verschwendung hatte das gar nichts zu tun, sondern mit Geld. Es ging nie um etwas anderes. Es kam mir so vor, als würde Mom scheinbar dauernd in einer offenbar endlosen Reihe von Jobs arbeiten, während unser Haus schneller zerfiel als Dads berühmter Apfelstreusel und ich seit dem Star-Wars-Millennium-Falken vor zwei Jahren kein Weihnachtsgeschenk mehr bekommen hatte, mit dem ich angeben konnte.
Aber in diesem Jahr würde alles anders sein. Ich hatte mich seit Monaten von meiner besten Seite gezeigt. Hatte den Abfall rausgebracht, bevor mich Mom überhaupt darum bitten konnte, hatte meine allerfeinsten Geschirrspülfertigkeiten zu Hause eingesetzt und im Allgemeinendafür gesorgt, dass sie keine Entschuldigung haben würde, mir das Fahrrad vorzuenthalten, das ich verdiente.
Und dennoch überließ ich nichts dem Zufall. Jedes Mal, wenn mich ein Verwandter oder ein Nachbar fragte, was ich mir zu Weihnachten wünschte, sorgte ich dafür, dass meine Mutter in der Nähe war, um meine eindeutig formulierte Antwort zu
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