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Silbernes Band (German Edition)

Silbernes Band (German Edition)

Titel: Silbernes Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Jaedig
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Prolog

    Reykjavík, 25. Juli 1996

    Die Haustür fiel leise ins Schloss, seine Turnschuhe flogen davon. Eine Sekunde später stand Heiðar in der Küche.

    Er war von seiner ersten Spritztour mit dem silbernen Mountainbike zurückgekehrt, das Kristín ihm zum 18. Geburtstag geschenkt hatte. „Bitte setz dich zu mir. Ich muss mit dir reden“, bat sie und klopfte leicht auf die Sitzfläche des hölzernen Küchenstuhls.

    „Ist ein cooles Fahrrad! Danke Mama!“ Er fuhr sich mit der Hand durch die dunklen Locken. Da waren Schlammspritzer in seinem Gesicht, von den Jeans ganz zu schweigen. Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie flüchtig auf die Wange, bevor er den Stuhl heranzog und sich setzte.

    Die Unruhe war etwas verflogen. Es tat ihm gut, wenn er sich bewegen konnte. Dennoch gab es kein Zurück. Kristín dachte an die vergangene Nacht, als sie einmal mehr zitternd vor Angst seinen Träumen gelauscht hatte. Wie er sich knurrend und fauchend in den Laken wand und sich im Bett herumwarf. Ihn zu wecken war viel zu gefährlich. Sie durfte keinen Tag länger warten, sonst würde irgendwann etwas Schreckliches geschehen.

    An der Wand tickte die rote Plastikuhr. Kristíns gehetzter Herzschlag hatte den Sekundenzeiger längst überholt. Sie versteckte die schweissnassen, verknoteten Hände unterm Küchentisch, holte tief Luft und schluckte mühsam, ehe sie mit leiser Stimme zu sprechen begann: „Wir haben nie über deinen Vater gesprochen. Mir ist bewusst geworden, dass ich nicht länger schweigen kann. Du musst wissen, was dein Vater ist...“

    Dein Vater. Diese Worte hatte sie bisher noch nie in den Mund genommen – und jetzt gleich zweimal. Heiðars Herzschlag beschleunigte. Die kräftigen, regelmässigen Schläge konnten aber weder die Uhr noch den Herzschlag seiner Mutter einholen.

    “Heiðar“, fuhr sie widerstrebend fort, „deine Besonderheiten kommen nicht von ungefähr, sie sind keine Laune der Natur. Du hast diese speziellen Fähigkeiten von deinem Vater geerbt. Er ist ... kein normaler Mensch...“ Die rote Uhr tickte ungeachtet weiter, während sie nach den Worten rang, die sie niemals aussprechen wollte.

    Heiðar sass reglos auf seinem Stuhl und starrte sie unverwandt an, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Er fühlte sich wie der Gewinner einer Quizshow, dem gleich der Hauptgewinn präsentiert wird.

    „Heiðar, mein Liebling...“ Kristín glaubte an ihren Worten zu ersticken. Sie schluckte abermals, bevor sie endlich den Mund öffnen konnte, um sie aus sich herauszupressen: „Dein Vater ist ein Vampir...“

    Das Tor, hinter dem der Hauptgewinn wartete, war hochgegangen. Aber der glückliche Gewinner winkte nicht freudestrahlend in die Kamera, und der Quizmaster gratulierte nicht. Kristín barg das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus.

    Heiðar müsste wohl schockiert sein oder wenigstens einen hysterischen Lachanfall kriegen. Stattdessen fühlte er Wut – und Erleichterung, die Seite an Seite in ihm emporkrochen. Hatte er es nicht seit Langem geahnt? Aber es durfte nicht sein. Vampire standen in einer Reihe mit Zombies, Monstern und Superhelden. Fantasieprodukte der Menschen. Das Erbe eines Fantasiegeschöpfs war der Grund für seine jahrelangen Qualen. Heiðar war wütend. Auf seine Mutter, die mit ihrem Schweigen dafür gesorgt hatte, dass er sich jahrelang wie ein Freak fühlte. Und auf seinen Vater, der sich nie um ihn gekümmert hatte. Nun machte alles einen Sinn: Die wachsende Unrast, seine Faszination für Blut, der unermessliche Durst. Warum er stärker und schneller war als alle anderen. Warum seine Sinne so hoch entwickelt waren.

    Seine Mutter hatte ihm schon früh eingebläut, sich den anderen Kindern anzupassen, damit er auf keinen Fall auffiel. Er hatte es getan, ohne es in Frage zu stellen. Als er älter wurde und die Unrast ihn zu quälen begann, tauchten Fragen auf. Er hatte nie gewagt diese zu stellen. Heiðar hatte instinktiv gespürt, dass sie nicht darüber sprechen wollte. Dass sie sich dafür schämte, was er war. Trotzdem liebte sie ihn, also versuchte er, so normal wie möglich zu sein. Sie hatten jahrelang ein beinahe perfektes Spiel der Verdrängung gespielt. Zu welchem Preis? Welche Rolle spielte sein Vater, der Vampir? War er bloss ein unbedeutender Nebendarsteller? Oder hatte er gar im Hintergrund Regie geführt und diese Heimlichtuerei unterstützt, ja gefordert?

    Seit Kristín zu sprechen begann, hatte die rote Plastikuhr 258 Mal getickt.

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