Der Wind bringt den Tod
merkte, dass ihrer Freundin die letzten Kräfte schwanden. Was, wenn sie sicher am Auto ankamen und doch nur noch eine Tote stützten? »Weiter.«
Sie umrundeten die Hausecke. Neben dem Traktorwrack konnte Jule den BMW sehen. Ihr Auto! Die geöffnete Fahrertür war wie eine glückliche Verheißung. Wie hatte sie sich je vor dem Anblick dieses Wagens fürchten können?
»Schick gleich einen Notarzt«, rief Smolski. »Ich habe hier eine Verletzte.«
Sie passierten die Haustür. Es waren keine zwanzig Meter mehr bis zum Auto. Nur noch zwanzig Meter, bis sie in Sicherheit waren.
»Sie blutet. Der Irre hat ihr die Zehen ampu–«
Smolski brachte den Satz nicht mehr zu Ende. Jule hörte noch ein dumpfes Knacken und Knirschen. Dann klappte er einfach in sich zusammen. Sein Gewicht riss sie und Caro mit sich zu Boden.
Von der einen auf die andere Sekunde geriet Jule in ein heilloses Wirrwarr aus Armen, Beinen und Rümpfen. Ihre rechte Hand, mit der sie den Sturz abzufangen versucht hatte, brannte wie Feuer. Mühsam wälzte sie die Last fremder Leiber von sich herunter.
»Nein!«, schrie sie, als sie erkannte, was Smolski zu Fall gebracht hatte.
Rolfs massiver Leib ragte drohend über ihr auf. Mit der rechten Hand hielt er eine lange Kneifzange umklammert. In seiner mächtigen Pranke wirkte sie wie Spielzeug. Eine schwarze Flüssigkeit tropfte von der Zange. Jule verlor jede Zuversicht, dass Smolski noch einmal aufstehen würde.
»Du«, knurrte Rolf. Er schwankte einen Schritt auf sie zu. »Du bist gar nicht sie! Du bist nicht Kirsten!«
154
Jule würde nicht kampflos aufgeben. Nicht nach allem, was Rolf ihr, Caro, Kirsten und wusste Gott noch wie vielen anderen Frauen angetan hatte. Sie winkelte das Knie an und trat ihm mit aller Kraft vors Schienbein. Sein linkes Bein knickte unter ihm weg. Er brüllte auf und stürzte schwer auf die Seite.
Das war Jules Chance. Sie rappelte sich auf, biss die Zähne zusammen und spurtete zu ihrem Wagen. Sie ließ ihre beiden Freunde nicht im Stich. Sie wusste nur, wie krank Rolf wirklich war. Sie warf einen Blick über die Schulter. Sie irrte sich nicht: Rolf scherte sich nicht um Smolski, der bewegungslos am Boden lag. Er interessierte sich auch nicht für Caro, die vor lauter Schmerz und Panik auf allen vieren ausgerechnet auf die Tür des Haupthauses zukroch. Rolf hatte es jetzt ganz allein auf Jule abgesehen. Weil sie ihn getäuscht hatte. Weil sie ihn in seinem eigenen Spiel geschlagen hatte. Weil sie ihm das Gefühl gegeben hatte, seine Kirsten wäre endlich wieder bei ihm.
Jule warf sich durch die offene Tür des BMW auf den Fahrersitz. Hinter ihr knirschten Rolfs schwere Schritte auf dem Schotter.
Ein allerletztes Mal brodelte ihre Angst in ihr hoch. War er es nicht gewesen, der ihr gezeigt hatte, dass es angeblich nichts gab, wovor sie sich fürchten musste, wenn sie sich hinters Steuer setzte? Und hatte er sie nicht die ganze Zeit über belogen? Was, wenn auch seine Hilfe nur eine Lüge gewesen war?
Nein, war es nicht. Sie konnte ein Auto blind fahren. Es war nur eine Maschine. Eine Maschine, die tat, was man ihr befahl.
Sie sah ihn auf sich zukommen, eine dunkle massige Gestalt. Sie zog die Tür zu und drückte den Startknopf. Der Motor grollte. Ihre Hand fuhr automatisch zum Schaltknüppel, ihre Füße fanden die Pedale wie von selbst. Ein helles, warnendes Piepen wollte sie dazu drängen, den Sicherheitsgurt anzulegen.
Sie erstarrte. Was machte er da?
Er blieb stehen, drehte sich um, weg von ihr, zurück zum Haus.
Jule folgte seinem Blick. Für einen furchtbaren Wimpernschlag teilte sie Rolfs Wahn. An den Türrahmen des Haupthauses gelehnt, stand Kirsten Küver in einem weißen Brautkleid, die Arme flehentlich in seine Richtung ausgestreckt.
Der Bann verflog so schnell, wie er über Jule gekommen war. Da stand Caro!
Nicht für Rolf. Sie ahnte genau, was er dort noch immer sah, worauf er nun mit schnellen Schritten zuging. Er würde sie packen und wieder hinunterschaffen in diesen Keller, um dann zu Ende zu bringen, was er begonnen hatte. Und diesmal würde kein Smolski auftauchen, um sie zu retten.
Jule wusste, was sie zu tun hatte.
Sie gab Gas, ohne die Kupplung kommen zu lassen. Schotter spritzte unter den durchdrehenden Reifen weg.
Jetzt!
Der Wagen machte einen Satz nach vorn. Rolf konnte die drohende Gefahr nicht überhören. Er warf sich zur Seite – nur einen Sekundenbruchteil zu spät. Das Steuer zuckte in Jules Hand, als wollte das Auto
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