Signal: Roman (German Edition)
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Das Monster war barsch, aber höflich, und sein Akzent hörte sich leicht französisch an. Während sie die schwerfällige, zweifüßige, Testosteron ausstrahlende Kreatur über die Straße hinweg beäugte, begriff Ingrid, warum sie sich ihnen lieber außerhalb der Stadt und fern von neugierigen Augen näherte. Selbst in einer Welt voller seltsamer und exzentrischer Melds wirkte das Aussehen des Freewalkers noch äußerst exzentrisch.
Aber ihr war zweifelsfrei klar, dass er sie erwartete. Allein die Art, wie er in ihre Richtung starrte, bewies, dass er sich nicht zufällig auf diesem ansonsten verlassenen Feldweg aufhielt.
Whispr und sie hatten sich schon fast einen ganzen Tag lang auf der einsamen Straße von Orangemund nach Norden bewegt, wobei die Bezeichnung »Straße« für diesen uralten, holprigen Weg sehr beschönigend war. In diesem unwirtlichen Wüstengebiet wäre ein Schweber welcher Art auch immer das beste Transportmittel gewesen. Die Überreste des noch vorhandenen Pfades wurden nicht mehr gepflegt und gingen mehr und mehr in die von Kies bedeckte Ebene über. Schon bald würden sie sich nur noch auf die Positionsinstrumente in ihren Kommunikatoren verlassen müssen, um den geheimen Weg zu finden, den ihnen Morgan Ouspel verraten hatte.
Orangemund lag hinter ihnen. In jeder anderen Richtung befand sich nichts als die Leere der Namib, da waren nur Sand und Kies, Sonne und karge Büsche sowie der blaueste Himmel, den sie jemals gesehen hatte. Doch jetzt stand direkt vor ihnen ein Monster.
Diese Beschreibung war für eine Ärztin ziemlich armselig, schalt sie sich. Der Freewalker war nicht wirklich ein Monster, sondern eher einer der radikalsten Melds, die sie je gesehen hatte. Daher konnte man ihr ihre anfängliche Reaktion auf ihn auch kaum verdenken. So etwas Fremdartiges hatte sie in Savannah nie zu Gesicht bekommen, nicht einmal bei ihren Studien an der medizinischen Fakultät. Extreme Bedingungen erforderten extreme Manipulationen, erkannte sie, und es gab auf dem Planeten wohl kaum extremere Umgebungen als die Namib-Wüste.
Wie sie in die Situation gekommen war, in Begleitung zweier Melds zu Fuß am südlichen Rand der Namib unterwegs zu sein, das war die Geschichte einer Suche und von Entdeckungen, die ihr im Nachhinein eher wie ein Traum als wie die Realität vorkamen. Einer Sache war sie sich jedoch ganz sicher: Sie hatte sich weit von ihrer vertrauten Arztpraxis und ihrer gemütlichen Wohnung entfernt.
Während der Freewalker sie studierte, musterte sie ihn ebenfalls. Soweit sie es erkennen konnte, musste er zwischen vierzig und fünfzig sein, genauer konnte sie sein Alter allerdings nicht bestimmen. Das war angesichts der Art, wie sein Körper verändert, verzerrt, aufgebläht, überzogen, manipuliert und neu geformt worden war, auch kaum möglich. Auf gewisse Weise waren die Melds, die er erhalten hatte, extremer als die der Marsianer, allerdings kamen sie nicht an jene heran, die ein echter Titanit aufweisen konnte. Der in ihren Rucksack integrierte Autostabilisator passte dessen Position an, als sie Whispr einen Blick zuwarf und erkannte, dass dieser den Riesen in seiner üblichen misstrauischen Art begutachtete.
»Wollen Sie uns überfallen?« Sein Tonfall war säuerlich, seine Haltung angespannt.
Die mit einem Sonnenschutz überzogenen, manipulierten Pupillen in den winzigen Augen sahen aus einem breiten, fast schon flachen Kopf auf Ingrids Begleiter herab. Der kahle Schädel bestand aus mehreren Falten von Meld-Haut, die offenbar dazu gedacht waren, die im Inneren des Kopfes herrschende Hitze abzuleiten. Nur an der Stirn, wo sich die Ränder der einzelnen Hautschichten wie abblätternder Granit überlagerten, wurde das Meld offensichtlich. Die unteren Falten ergaben zusammen flexible, fast schon greifbare Brauen, die die empfindlichen Augen vor dem umherwehenden Staub und der gnadenlosen Sonne schützten.
»Mein Name ist Quaffer. Ich will Ihnen nicht schaden. Ich bin offizieller Fremdenführer. Das ist meine Arbeit, mein Leben, dafür wurde ich geschaffen. Zwischen der Alexander Bay und Cape Cross gibt es keinen besseren. Und ich möchte Sie führen.« Eine flache Hand von der Größe eines Esstellers deutete beiläufig in Richtung Norden. »Wenn Sie noch weiter in diese Richtung gehen wollen, brauchen Sie einen Führer.«
Seine Stimme klang tief und donnernd, allerdings wusste Ingrid nicht, ob der Widerhall auf seiner Größe, seiner Masse oder seiner mantaartigen
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