Im Herzen der Zorn (German Edition)
Prolog
Henry Landon blies sich auf die Finger, um sie zu wärmen. Es wurde langsam spät und er musste am nächsten Tag früh unterrichten. Als er sich erhob, um seine Eisfischausrüstung – einen Eimer, eine Eissäge, seine Köder, Haken und Angelschnur – zusammenzupacken, glaubte er, hinter sich ein Rascheln zu hören. Er wirbelte auf dem dicken Eis herum, sah jedoch nichts bis auf das schlammige Ufer, die kahle Rundung des Hügels und die blätterlosen Bäume dahinter. Die Eissäge funkelte im Mondlicht.
»Hallo?«, rief er. Seine Stimme hallte über den zugefrorenen Teich. Er zuckte mit den Schultern, beugte sich vor, um den Eimer zu nehmen, und dachte an sein leeres Haus und daran, wie ruhig es dort sein würde, wenn er heimkam.
In diesem Moment sah er es – ein Gesicht im Eis. Da, direkt unter seinen Stiefeln.
Sein Herz begann unter der dicken Weste, die er anhatte, zu pochen. Das war doch nicht möglich. Er schüttelte den Kopf, blinzelte. Er war unfähig zu schlucken.
Wie aus einer gläsernen Vitrine starrte ihn das Gesicht eines wunderschönen Mädchens an, die vollen Lippen blutrot. Ihr blondes Haar fächerte sich unter der Oberfläche auf wie das einer Meerjungfrau, fast so, als legte es sich in der Strömung immer wieder in neue Wellen. Das Mädchen schien sich von unten ans Eis zu klammern. Auf ihrer Handfläche lag eine tiefrote Blüte.
Er kannte ihr Gesicht.
Landon hustete, rang nach Atem, musste sich beinahe übergeben. Als er die Augen schloss, stieg eine Erinnerung in ihm hoch: Kalifornien, ein paar Jahre zuvor. Am Strand. Ein blondes Mädchen im weißen Bikini war schwimmen gegangen. Die Wellen waren zu heftig gewesen. Sie hatte mit den Armen gerudert und um Hilfe gerufen, dann war ihr Körper untergegangen. Er hatte das alles mit angesehen – hatte zugelassen, dass es passierte. Nicht etwa, weil er nicht schwimmen konnte. Auch nicht, weil irgendwer sonst hinausgeschwommen war, um sie zu retten. Sondern weil sie seine Schülerin war. Eine intelligente, Harvard-geeignete sechzehnjährige Schülerin. Kaylie. Sie waren am Strand gewesen. Zusammen.
Sie hatte damit angefangen, nicht er. Ihm gesagt, er sähe aus wie George Clooney. Nach dem Unterricht auf ihn gewartet. Im Vorbeigehen mit den schlanken Fingern seine Seidenkrawatte geschnippt. Sie hatte ihn angehimmelt und er hatte nicht anders gekonnt.
Wäre die Polizei an jenem Tag gekommen, hätte das das Ende seines bisherigen Lebens bedeutet. Er hatte nicht zulassen können, dass sie alles zerstörte. Also entschied er sich in diesem Moment dafür, sein eigenes Leben zu retten, nicht ihres. Entschied sich und lief davon.
Ließ sie sterben.
Und jetzt war sie hier.
Er öffnete die Augen. Gespenstisch schön glitt das Mädchen unter dem Eis in sein Blickfeld, als würde es leuchten. Plötzlich schnappten ihre Augen auf, wässrig und weiß. Ihre Lippen öffneten sich zu einem breiten Grinsen.
Er war unfähig, sich zu rühren.
Zuerst war das Knacken nur ganz leise. Hörte sich beinah so an wie ein kleiner Riss in einem Stück Stoff. Doch dann wurde es immer lauter, wie eine Serie von Explosionen, und bevor Henry Landon noch vom Eis heruntertreten konnte, öffnete es sich unter seinen Füßen und er stürzte hinab. Das eisige Wasser umschloss ihn, schoss durch seine Kleider, verschluckte Rumpf und Beine, während er verzweifelt mit den Armen ruderte und nach etwas suchte, woran er sich festhalten konnte. Da war nichts. Sein Eimer mitsamt dem kümmerlichen Fang von drei Fischen fiel um, die Tiere klatschten zappelnd und mit glasigen Augen auf das Eis.
Er ging unter. Die Kälte betäubte seine Glieder.
Der Tag am Strand holte ihn wieder ein. Die Sonne. Die Wellen. Kaylies helle Haut, ihr vertrauensvolles Lächeln. Kaylies Körper, wie er in den Wellen verschwand.
Seine Hände trafen über dem Kopf auf massives Eis. Er schnappte nach Luft, verschluckte sich an dem frostigen Wasser, seine Lunge brannte wie Feuer. Landon überkam die glasklare Erkenntnis, dass er keinen weiteren Atemzug mehr machen würde. Sein Körper begann zu zucken und sich zu krümmen, während er von den ersten Krämpfen eines qualvollen Todes geschüttelt wurde. Er hörte den entfernten Klang von Mädchengelächter.
Dann: nur noch Leere.
Erster Akt
Unschuld
oder
Vanilleeis
Kapitel 1
»You say you wanna play around with other boys. You tell me that it’s over, but all I hear is WHITE NOISE! « Crow ergriff das Mikrofon, beugte sich nach vorn und einen kurzen
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