Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
Ohren in der Nähe waren. »Es gibt dort wunderbare Lehrer, und die Studenten kommen von überall her aus den Sieben Reichen. Ich habe so viel gelernt.« Da schoss ihr eine Idee durch den Kopf. »Du könntest auch hingehen«, schlug sie vor. »Du könntest dort lernen, was immer du willst. Ich glaube, wir sollten viel mehr Studenten dorthin schicken. Nicht nur Magier.«
Mellonys Augen weiteten sich alarmiert. »Kaum bist du wieder zurück, willst du mich wegschicken? « Ihre Stimme überschlug sich.
»Nein, nein«, beeilte Raisa sich zu sagen. »Nicht, wenn du nicht willst. Ich dachte nur, es wäre eine großartige Chance für dich. Nach deiner Rückkehr könntest du Mitglied in meinem Rat werden. Ich brauche Berater, denen ich trauen kann.«
»Ich liebe meine Lehrer«, sagte Mellony etwas lauter als bisher. »Ich liebe es, am Hof zu sein. Wieso sollte ich woanders hingehen wollen?«
Und ich würde liebend gern wieder nach Odenford zurück, dachte Raisa. Das ist der Fehler, den ich ständig mache – zu glauben, dass Mellony die gleichen Dinge mag wie ich.
Sie hat sich verändert, während ich weg war, stellte Raisa fest. Früher hatte sie sich immer auf Mellonys sonniges, unkompliziertes Gemüt verlassen können. Jetzt wirkte sie verärgert und argwöhnisch und voller Groll.
Dreizehn ist ein schwieriges Alter, dachte Raisa. Sie hat ein schweres Jahr und eine kummervolle Zeit hinter sich.
»Schon gut«, sagte Raisa und berührte Mellony an der Schulter. »Komm, streiten wir uns nicht ausgerechnet an dem Tag, an dem wir unsere Mutter begraben haben.«
»Es ist deine Schuld, dass sie tot ist«, gab Mellony zurück und zuckte unter Raisas Hand weg.
Ihre Worte ließen die Flammen der Schuld auflodern, die Raisa selbst schon genug nährte. Und sie brachten ihren Geduldsfaden, der bereits äußerst dünn war, endgültig zum Zerreißen. »Wie kannst du das sagen?«, fragte sie und vergaß, leise zu sprechen.
Amon warf einen Blick über seine Schulter; er hatte die Brauen hochgezogen und presste die Lippen aufeinander. Da drängte Han sein Pferd näher zu ihr, sodass er fast neben ihr ritt. »Hoheit, ich glaube, Ihr und die Prinzessin könntet etwas Abgeschiedenheit vertragen. Ich bin zwar ziemlich erschöpft, aber ich denke, das kann ich noch bewerkstelligen.« Er berührte sein Amulett, machte eine Geste, und ein Vorhang des Schweigens senkte sich herab, der alle Geräusche um sie herum von ihnen fernhielt.
Han zügelte leicht sein Pferd und ließ sich dann wieder etwas zurückfallen, um erneut in respektvollem Abstand zu folgen.
Mellony reckte das Kinn, als wollte sie sagen: Siehst du? Du hast selbst deinen Magier. Aber stattdessen fragte sie: »Stimmt es, dass er ein Dieb und Mörder ist?«
Vielleicht, zog Raisa als Antwort in Erwägung. Oder: Wahrscheinlich. »Früher war er das einmal«, sagte sie. »Er war Streetlord von Ragmarket.«
»Ein Magier-Streetlord«, stellte Mellony fest und wischte sich den Regen von der Nasenspitze. »Das ist irgendwie romantisch.«
»Ich bezweifle, dass er das so beschreiben würde«, erwiderte Raisa trocken. »Aber wie auch immer, er ist erst ein Magier geworden, nachdem er die Straße hinter sich gelassen hatte.«
»Was soll das heißen, er ist Magier geworden?«, fragte Mellony. »Magier werden geboren, nicht gemacht. Sofern Lord Bayar nicht doch recht hat und er irgendeinen Pakt mit dem Zerstörer geschlossen hat.« Sie erschauerte. »Hältst du das für möglich?«
»Wenn er einen Handel gemacht hat, dann war es ein schlechter«, sagte Raisa. »Aber ich weiß wirklich ganz genau, dass er ein ziemlich guter Händler ist.«
»Auf jeden Fall sieht er gut aus«, räumte Mellony ein. »Irgendwie … verrucht. Ich glaube, ich habe noch nie einen Mann mit derart blauen Augen gesehen. Und wie er einen ansieht – fast unnatürlich, als könnte er geradewegs durch die Kleidung hindurchschauen. Und dann auch noch so ganz in Schwarz, und die Haare …«
»Mellony«, sagte Raisa sanft. Zauberbann hin oder her, sie wollte nicht über Han Alister sprechen, wenn er so dicht hinter ihnen ritt. Es war auch so schon alles kompliziert genug. »Du hast über Mutter gesprochen. Dass ich schuld an ihrem Tod sein soll.«
Mellony sagte lange Zeit nichts, und Raisa fragte sich schon, ob sie überhaupt noch antworten würde. »Mutter war am Boden zerstört, als du weggegangen bist«, begann Mellony schließlich. »Sie hat sich dafür die Schuld gegeben. Sie dachte, sie hätte es kommen
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