Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
sehen müssen und es irgendwie verhindern müssen. Sie hat kaum noch gegessen oder geschlafen, und sie ist furchtbar dünn geworden und weinerlich.« Mellony sah Raisa an. »Also, uns allen ist es ziemlich schlecht gegangen, und wir haben uns Sorgen gemacht, während du dich in Odenford amüsiert hast.«
»Ich habe mich amüsiert? Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie hart ich gearbeitet habe?« Noch während Raisa das sagte, wusste sie, dass sie nicht ganz ehrlich war. Trotz allem hatte sie sich amüsiert.
Mellony verdrehte die Augen. »Du bist verrückt danach, hart zu arbeiten, und das weißt du auch«, sagte sie. »Du hast immer härter gearbeitet als alle anderen, ob es um die Schule ging oder um das Jagen – oder um sonst was. Verglichen mit dir haben alle anderen immer einen schlechten Stand gehabt.«
Alle anderen bedeutete zweifellos: Mellony.
Es war an der Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen. »Hat Mutter dir gesagt, warum ich weggegangen bin?«
Mellony nickte. »Sie hat gesagt, dass du dich in Korporal Byrne verliebt hast.« Sie wies mit ihrem Kopf zu Amon hin, der gleich vor ihr ritt. »Mutter hat gesagt, dass du weggelaufen bist, weil sie darauf bestanden hat, dass du jemand anderen heiraten sollst.« Sie reckte trotzig ihr Kinn. »Und Korporal Byrne war auch in Odenford. War das nicht praktisch?«
»Das ist nicht wahr«, zischte Raisa, die sich getroffen fühlte. »Ich bin nicht weggelaufen, um mit Amon Byrne zusammen zu sein.«
»Wirklich nicht?« Mellony wölbte eine Braue. »Willst du Mutter als Lügnerin hinstellen?«
Raisa presste die Lippen zusammen, um zu verhindern, dass noch mehr Worte unbedacht aus ihr herausströmten. Sie wollte nicht schlecht über Tote reden. Und doch wollte sie Mellony die Wahrheit sagen. Sie war es leid zu lügen, und sie war die Verlegenheit und das Misstrauen leid, das zwischen ihnen herrschte.
»Du hast nie den Eindruck gemacht, als wolltest du überhaupt heiraten«, beharrte Mellony. »Du hast immer gesagt, dass du noch ganz viele Jungen küssen willst, bevor du dich auf einen beschränkst.«
Nun, ja. Das hatte sie tatsächlich gesagt.
»Ich sage nicht, dass Mutter eine Lügnerin war«, erwiderte Raisa diplomatisch. »Ich sage nur, dass sie dir nicht die ganze Wahrheit gesagt hat. Ja, ich bin weggegangen, als sie darauf bestanden hat, dass ich jemand anderen heirate. Weißt du, wer dieser Jemand war?«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte Mellony leicht trotzig, als wüsste sie bereits, dass sie nicht hören wollte, was Raisa zu sagen hatte. »Du bist gegangen, und Mutter ist gestorben.« Sie drückte ihrem Pony die Fersen in die Flanken und machte Anstalten, ein Stück nach vorn zu reiten, weg von ihr, aber Raisa griff ihr in die Zügel und hielt sie zurück.
»Es war Micah Bayar«, sagte Raisa. »Sie wollte, dass ich Micah Bayar heirate.«
Mellony schüttelte so heftig den Kopf, dass das Regenwasser spritzte. »Nein«, rief sie. »Das ist unmöglich.«
»Es ist möglich, weil es wahr ist«, beharrte Raisa.
»Nein«, wiederholte Mellony. »Micah hätte nie …«
»Micah wollte«, sagte Raisa. »Ich nicht.«
Mellony starrte sie an, und Tränen sammelten sich in ihren blauen Augen. »Ich glaube dir nicht«, stammelte sie, zerrte an ihrem Pferd und drängte es vorwärts, bis sie weit genug weg war, dass eine Unterhaltung kaum mehr stattfinden konnte.
Nun, dachte Raisa, so viel dazu, die Atmosphäre etwas zu entspannen.
Jemand musste eine Brieftaube nach Fellsmarch geschickt haben. Oder vielleicht waren Reiter auf frischen Pferden schneller als alle anderen zur Hauptstadt geritten, um die Ersten zu sein, die die Nachricht von Raisas Rückkehr verkündeten. Vielleicht hatte aber auch Cat Tyburn diesen Empfang organisiert. Wie auch immer es dazu gekommen war, die Neuigkeit war ihr vorausgeeilt, und als sie die Hauptstadt erreichte, waren die Straßen zu beiden Seiten von Menschenmassen gesäumt, die ihr zujubelten und mit Schals und Tüchern winkten.
Obwohl die Straße der Königinnen breit war, drängten sich die Leute dicht an sie heran und streckten die Hände aus, um ihre zurückgekehrte Prinzessin zu berühren. Amon und Han nahmen beiderseits von Raisa ihre Position ein und hielten mithilfe ihrer Pferde jeden davon ab, ihr zu nahe zu kommen, während sich die Wache enger zusammenschloss und einen Pfad zum Schlossbezirk hin bahnte.
Zu Raisas großer Verlegenheit gab es ein paar in der Menge, die die Demonai verfluchten, sie anzurempeln
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