Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
diesen Gedanken voller Zuversicht glitt sie zurück in einen friedlichen Schlaf.
Als sie erneut erwachte, war es später Nachmittag oder früher Abend. Licht sickerte durch die Türen und Fenster, aber gegen die hereinbrechende Dunkelheit waren bereits Laternen angezündet worden.
Ein beunruhigendes Bild tauchte vor ihren Augen auf: Hauptmann Byrne, wie er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag, mit Bolzen gespickt in einer Blutlache, die im Schnee schwarz wirkte.
Da drängten sich noch andere Erinnerungen nach oben. Mac Gillen, der abtrünnige Leutnant, der sie verschleppt hatte und ihr damit – so abwegig diese Wendung des Schicksals auch war – das Leben gerettet hatte. Sie hatte ihn getötet und war mit seinem Pferd weitergeritten. Aber von den anderen Soldaten wurde sie bereits erwartet und bis in eine Schlucht verfolgt, in der ein Armbrustbolzen sie vom Pferd gerissen hatte. Sie hatte es sogar noch geschafft, einen von ihnen zu töten, aber das Gift hatte bereits angefangen zu wirken, und während sie schwächer geworden war, waren die Männer näher gekommen. Und dann …
Sobald sie die Augen schloss, sah sie ein vertrautes Gesicht vor sich: von Schmerz gezeichnete und von Fackellicht erhellte Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen, einer langen, geraden Nase und eindringlichen blauen Augen, die von hellen Haaren umrahmt wurden.
Han Alister. Irgendwie war er in ihren persönlichen Albtraum hineingeraten. Aber das ergab keinen Sinn. Han war in Odenford zurückgeblieben. Soweit sie wusste, war er immer noch dort und glaubte, sie hätte ihn verlassen.
Doch dann erschauerte sie. Sie erinnerte sich daran, wie er seine brennenden Hände auf die eiskalte, vergiftete Stelle auf ihrer Haut gelegt hatte, die immer größer wurde, und wie daraufhin Macht in sie hineingeströmt war und diese gefrorene Stelle aufgetaut hatte.
Sie hatte gegen ihn angekämpft. Sie hatte versucht, ins Vergessen zu entkommen, aber er war ihr gefolgt, hatte ihre Barrieren bezwungen, und … und dann? Sie hatten sich miteinander verbunden, wie Feuer und Eis, und er hatte sie vor der heimtückischen Kälte beschützt.
Sie hatte sich noch nie so sicher gefühlt – sie hatte sich noch nie so lebendig gefühlt wie in diesen Momenten, als sie sterbend in Han Alisters Armen gelegen hatte.
Da war etwas … da war etwas mit ihrem Ring gewesen. Er hatte ihn ihr abgenommen. Sie hob die Hände und sah, dass der Wolfsring genau da war, wo er hingehörte, auf dem Zeigefinger ihrer linken Hand.
Also war vielleicht doch alles nur ein Traum, dachte sie enttäuscht. Sie hatte mit seinem Gesicht vor Augen sterben wollen und sich daher alles andere nur eingebildet.
Eigentlich hätte sie dieser Gedanke beruhigen sollen, aber stattdessen spürte sie eine Leere in sich. Als wäre sie beraubt worden. Sie fühlte sich auf eine Weise so allein wie noch nie zuvor. Und da war noch etwas – etwas, das in ihrem Hinterkopf lauerte. Etwas, an das sie sich nicht erinnern wollte.
Raisa stützte sich auf den Ellenbogen; plötzlich verspürte sie einen rasenden Durst und hämmernde Kopfschmerzen. Die Frauen am Feuer mussten sie beobachtet haben, denn zwei von ihnen erhoben sich und legten ihre Nadelarbeit beiseite, um dann zu ihr zu treten und sich neben die Pritsche zu knien.
Bei der einen handelte es sich um ihre Großmutter Elena Demonai, die Matriarchin des Demonai-Camps. Die andere war Willo Song, Heilerin und Matriarchin des Marisa-Pines-Camps. Raisa hatte sie an Namenstagen und anderen Festtagen getroffen, als sie bei den Demonai gelebt hatte.
Beide Frauen waren in Weiß gekleidet, trugen weiße Wollschals, weißgegerbte Wildlederhemden und weiße Glockenröcke. Mit einem Mal stieg Besorgnis in ihr auf und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Weiß galt bei den Clans als Farbe der Trauer.
»Schön zu sehen, dass du wach bist, Enkelin«, sagte Elena. »Du hast drei Tage geschlafen.«
Willo neigte den Kopf und machte das Zeichen der Schöpferin. »Thorn Rose, willkommen an unserem Feuer. Bitte teilt alles mit uns, was wir haben.« Es war der formelle Gruß, mit dem die Clan-Leute ihre Gäste willkommen hießen.
»Ich habe Durst«, flüsterte Raisa.
Willo half Raisa, sich aufzusetzen, und legte ihr einen Arm um die Schultern, um sie zu stützen. Elena setzte ihr einen Becher mit Wasser an die Lippen.
Sie trank einen großen Schluck. Das Wasser brannte auf ihren Lippen und ihrer Zunge und schien ihr die Kehle zu verbrühen. Sie schüttelte den
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