Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
ihn über dem Umhang baumeln.
Seine Hand jedoch schob er unter das Hemd, um jenes Blitzstück festzuhalten, das einmal dem Dämonenkönig gehört hatte.
Weitere Zeit verging. Die Schatten der Bäume wurden kürzer und dann wieder länger. Es begann zu schneien; der Schnee fiel sanft und umhüllte die Welt um sie herum. Irgendwie gelang es ihm, den Rest seines Wasservorrats zu trinken. Die letzten Tropfen brannten wie Flammen in seiner Kehle. Heiß war kalt, und kalt war heiß – offensichtlich ein Nebeneffekt des Giftes.
Er hielt das Schlangenstabamulett weiterhin mit einer Hand umklammert, während er mit der anderen Rebecca an sich presste. Sein Amulett brannte heiß in seiner Hand und kühlte zugleich. Macht floss durch das Zauberstück, durch Han und in Rebecca hinein. Dort, wo Han vorher warm gewesen war und Rebecca kalt, war es jetzt umgekehrt. Sie glühte auf seiner eiskalt gefrorenen Brust. Ragger suchte sich den Weg inzwischen allein, während die Zügel locker über dem Sattelknauf hingen.
Han hörte die vertraute Stimme in seinem Kopf, die ihn beharrlich und unablässig plagte.
Alister. Was tust du da? Hör auf! Lass das Mädchen los. Du wirst alles ruinieren. Du wirst dich damit noch selbst töten. Nach all der Zeit, die ich in dich investiert habe, darfst du dich nicht so zerstören.
Halt den Mund, dachte Han. Ich weiß, was ich tue.
Auch andere Stimmen mischten sich ein. Eine klang nach Korporal Byrne. Bleib am Leben, Rai. Bleib am Leben. Bleib am Leben, bis ich komme. Gib nicht auf.
Rai?
Aber bevor er weiter darüber nachdenken konnte, begann Han jetzt auch noch, Dinge zu sehen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie seine Umgebung flackerte. Sich bewegte. Wölfe. Graue Wölfe flankierten sie zu beiden Seiten, bahnten sich den Weg durch immer neue Schneevorhänge. Die Wölfe verwandelten sich in schöne, blaublütige Damen, deren Kleider über den Schnee streiften. Dann wurden sie wieder zu Wölfen. Er versuchte, sie nicht weiter zu beachten und so zu tun, als wären sie gar nicht da. Aber es schien fast so, als wenn sie ihm helfen würden. Ihm helfen würden, die richtige Richtung einzuschlagen. Eine Art Eskorte, die ihn durch den grellweißen Schnee führte.
Er legte sich einen Plan zurecht, übte das, was er sagen wollte, wie ein kleines Kind ein. Wenn er genug geübt und es sich eingeprägt hatte, würde er sich vielleicht auch dann noch daran erinnern, wenn er nicht mehr bei klarem Verstand war. Jede Verzögerung konnte für Rebecca tödlich sein.
Hol Willo Song. Wir brauchen Willo. Das Mädchen ist vergiftet.
Er starrte auf den Schnee hinunter und überlegte, dass dieser seine brennende Kehle erfrischen würde, aber er konnte nicht so recht rauskriegen, wie er an ihn herankommen sollte.
Auf seltsame Weise wurde er sich plötzlich seiner eigenen Atemzüge bewusst. Er konzentrierte sich darauf, davon überzeugt, dass er einfach aufhören würde zu atmen, wenn er sich nicht mehr daran erinnerte, dass er es tun musste.
Atmen.
Er legte den Kopf etwas zurück, und Schneeflocken zischten wie Funken auf seiner Zunge. Der Wald um ihn herum wogte und bebte, und seine Farben liefen wie frische Ölfarbe von einer Leinwand herunter. Oder wie Feuerwerk. Er erinnerte sich; da war etwas mit Feuerwerk und Dächern und Hoffnung gewesen.
Blätter glitzerten im Sonnenlicht.
Sonnenlicht. Die Sonne war aufgegangen. Es hatte aufgehört zu schneien. Oder war das nur eine Halluzination?
Atmen.
Mit einer eigenartigen Klarheit bemerkte er mit einem Mal, dass der frische Schnee auf dem Weg vor ihm von vielen Pferdehufen aufgewühlt worden war. Dampfwolken stiegen rings um ihn herum auf, und der Gestank von Schwefel und Holzrauch drang in seinen getrübten Geist. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, wieso das wichtig war.
Er sah nach unten und stellte überrascht fest, dass da ein Mädchen in seinen Armen lag. Ihr dunkler Kopf lehnte an seiner Schulter, und ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. Sie hatte die Lippen im Schlaf leicht geöffnet. Er blinzelte. Wie war noch ihr Name?
Mit einem zitternden Zeigefinger strich er ihr über die Wange. Ihr Gesicht war dort, wo ihr jemand wehgetan hatte, schwarz und blau, aber sie war am Leben. Er atmete erleichtert auf, während ihm Tränen über das Gesicht liefen. Er musste geschlafen und dabei geträumt haben, dass sie tot war.
Er war so damit beschäftigt, dieses Rätsel zu lösen, dass es ihn völlig überraschte, als Ragger abrupt stehen blieb.
Weitere Kostenlose Bücher