Der Zauber des Engels
dieser blöde Computer endlich hochgefahren ist«, hatte er geringschätzig gebrummt, als ich vor einigen Monaten nach einem seiner Schwindelanfälle von Paris aus mit ihm telefoniert hatte.
Als ich von meinem Spaziergang zurückkam, stieg ich die schmiedeeiserne Wendeltreppe hinauf und stieß die Feuertür zum Dachboden auf, die sich mit einem leisen Seufzer öffnete.
Durch das Dachfenster fiel die untergehende Sonne auf Kisten und Aktenschränke und tauchte den riesigen Raum in eine orangefarbene Glut, vom vollgepackten Fußboden bis zur Dachschräge. Ich knipste die nackte Glühbirne an, deren Licht die lange Reihe schwarzer Auftragsbücher in den Wandregalen ins Blickfeld tauchte.
Dort, wo eigentlich die beiden ersten Bände hingehörten, klaffte eine Lücke. Nach kurzer Zeit entdeckte ich sie auf Dads Mahagonischreibtisch zwischen Büchern, Papierstapeln und Pappordnern, die auf der Lederunterlage gestapelt waren.
Ein Auftragsbuch war aufgeschlagen. Als ich es näher heranzog, kam darunter ein weiteres, ebenfalls in dünnes Tuch gebundenes Buch zum Vorschein, und die Seiten, die plötzlich vom Gewicht befreit waren, fächerten sich auf. Sie waren dicht mit Dads ausgeprägten schwarzen Lettern übersät.
Ich nahm das Fundstück und schlug die erste Seite auf. Der Titel war in Versalien geschrieben und sorgfältig unterstrichen. Ich las und staunte. Dad hatte mir gar nicht erzählt, dass er angefangen hatte, die Geschichte von Minster Glass aufzuschreiben. Willkürlich blätterte ich irgendwo auf. Ein vertrauter Name fiel mir ins Auge:
Im Januar 1870 wurde Mr. Ashe von seiner Kundin Lady Faulkham beauftragt, drei Fenster für die Nordkanzel der St. Barnabas’s Church in Wandsworth zu entwerfen. Das Thema sollte Das letzte Abendmahl sein. Er schrieb sogleich an Edward Burne-Jones und bat ihn, ihm einige Vorschläge zu unterbreiten. Der Künstler lieferte sie innerhalb von zwei Wochen, doch ein Brief von Lady Faulkham deutet an, dass sie Einwände gegen die Gestaltung der Gesichter erhoben hatte …
Die Firma hatte tatsächlich versucht, Edward Burne-Jones zu beauftragen? Meinen Lieblingskünstler? Das hatte ich nicht gewusst!
Aufgeregt zog ich einen dünnen zerfledderten Ordner von einem Stapel auf dem Schreibtisch und schaute hinein. Er enthielt Zeichnungen für ein Heiligen-Triptychon. Im Ordner darunter entdeckte ich Rechnungen und Briefe, die mit einer vergilbten Kordel zusammengebunden waren. Dad hatte seine Hausaufgaben offensichtlich gemacht. Noch einmal blätterte ich das Notizheft durch und blieb an der ersten Seite hängen.
Das erste erwähnte Datum war Mai 1865: Ein gewisser Reuben Ashe hatte die Firma gegründet. Aber Dad war noch weiter zurückgegangen und hatte Ashes Werdegang bis zu diesem Zeitpunkt recherchiert. Erst einige Seiten später kam er auf die Fortschritte des jungen Unternehmens am Greycoat Square zurück. Ich blätterte weiter bis zu der Stelle des Hefts, an der er den Federhalter aus der Hand gelegt hatte.
Obwohl das dicke Heft schon zur Hälfte beschrieben war, war er nur bis … Nein, das konnte nicht sein! Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff. Ich schaute noch einmal hin. Zufällig war Dad bis 1880 gekommen, und der letzte Abschnitt, den er geschrieben hatte, betraf just das Gebäude, das Zac und ich uns anschauen wollten: die St.-Martin’s-Kirche. Dann fiel mir Jeremy Quentins Brief wieder ein, auch der Hinweis auf die Diskussionen, die er und Dad geführt hatten, und ich erkannte, dass es eigentlich gar nicht so überraschend war.
Ich las weiter:
Der Bau von St. Martin’s Westminster geht auf den Auftrag einer reichen Stifterin zurück. Ihr Anliegen war es, sich um die Tausenden gottlosen Armen zu kümmern, die unter den verächtlichen Blicken der Reichen und Mächtigen in den engen Elendsquartieren im Schatten der Westminster Abbey und der Houses of Parliament hausten.
Das große Ostfenster, eine imposante Kreuzigungsszene, wurde 1870 von Charles Kempe für Minster Glass entworfen. Die Szene ersetzte eine ältere Krippendarstellung, die zu diesem Zeitpunkt als profan und altmodisch galt. 1880 bekam der zuständige Reverend, ein Mr. James Brownlow, die Gelegenheit, neue Fenster für die Marienkapelle in Auftrag zu geben …
Leider endete der Bericht hier, auch wenn Dad noch ein paar Anmerkungen an den Rand gekritzelt hatte. »Prüfen, wann Burne-Jones für Morris & Co. gearbeitet hat«, lautete eine, »Wer war Laura Brownlow?« eine andere.
Ich zog das
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