Mr. Fire und ich (Band 1)
1. Sprachlos
Manche Reisen verdanken es einem Traum, dass sie Wirklichkeit werden. Eines Nachts spazierte ich durch den Central Park wie durch den Garten meiner Kindheit, erkundete die Säle des Museum of Modern Art, als ob ich bereits tausende Male dort gewesen wäre, und Manhattan erschien mir so vertraut, so greifbar, dass es wortwörtlich Klick gemacht hat. Als ich aufwachte, war meine Entscheidung bereits gefallen: Ich gehe nach New York. Für das schüchterne junge Mädchen aus der Provinz, das ich war und das außer einer Reise nach London in der vierten Klasse noch nicht viel von der Welt gesehen hatte, war das ein riesengroßer Schritt. Aber ich wusste, dass es an der Zeit war. An der Zeit, Neues zu erforschen, um meine persönlichen Grenzen kennenzulernen und selbstbewusster zu werden.
Ich erinnere mich an diese Abreise und an die sechs Monate, die seither bereits vergangen sind, hinter dem Empfangsschalter in der Eingangshalle eines Luxushotels, wo ich als Rezeptionistin arbeite. In etwa zwei Wochen läuft mein Vertrag aus und beim Gedanken an meine Rückreise werde ich nostalgisch und zugleich enthusiastisch. Diese Erfahrung hat mich unweigerlich verändert. New York hat mich in seinen Bann gezogen. Ich habe die Straßen und Museen erkundet und mir ohne Vorbehalt die Gerüche, Geräusche, Rhythmen, Gesichter und Bilder der Stadt eingeprägt. Hier war ich völlig anders, losgelöst von den Leuten, den Dingen und den Gedanken, die mein Leben in Frankreich bestimmt haben, und ich habe ungeahnte Seiten an mir entdeckt.
Plötzlich richte ich mich auf: Ich habe den leisen Ton der Drehtür vernommen, die sich gerade in Bewegung setzt. Ich drehe meinen Kopf in Richtung Eingang, bin jedoch immer noch so sehr in meine Gedanken versunken, dass ich weiterhin an dem Stift kaue, den ich zwischen Daumen und Zeigefinger halte. Vier Personen in perfekt sitzender Kleidung betreten die Eingangshalle, gefolgt von zwei Kofferwagen, die dermaßen mit unterschiedlich großen Gepäckstücken beladen sind, dass man die Pagen dahinter kaum erkennen kann.
Als die Gruppe in Richtung der Aufzüge geht, wendet sich ein Mann ab und kommt mit athletischen Schritten auf mich zu. Ich mustere ihn aus der Ferne. Er ist groß und langbeinig, seine Silhouette ist zugleich männlich als auch graziös. Sein Gang lässt an eine Katze denken. Die Art und Weise, wie er sich bewegt, drückt eine gewisse Ungezwungenheit und Leichtigkeit sowie eine kraftvolle Eleganz aus. Dieser Körper, der sich mir nähert, zieht mich magnetisch an und ich fühle mich von ihm eingenommen, ohne etwas dagegen tun zu können. Er kommt näher. Wie alt er wohl ist? Ich könnte es nicht sagen. Die kleinen Fältchen um seine Augenlider und seinen Mund verleihen seiner Mimik einen besonderen Ausdruck und scheinen weniger der Zeit als seinem Charisma geschuldet zu sein, und das kleine Grübchen am Kinn prägt sein Gesicht mit dem Siegel der ewigen Jugend. Trotz seines offensichtlich dunklen Teints wirkt er eher blass, er hat scheinbar noch nicht viel Sonne abbekommen. Sein braunes Haar ist zerzaust und sieht gekonnt lässig aus. Die hervorstehenden Wangenknochen und die große, schmale Nase lassen sein Gesicht nobel erscheinen. Sein gesamtes Erscheinungsbild, ein perfektes Zusammenspiel aus Stärke und Grazilität, strahlt eine faszinierende Harmonie aus. Schließlich betrachte ich ihn aus der Nähe. Er ist nur noch einen knappen Meter von mir entfernt. In seinen grünen Augen bemerke ich einen goldenen Schimmer. Die Intensität dieser Augen durchbohrt jede Faser meines Körpers. Sein Lächeln erhellt sein ganzes Gesicht. Auch ich sollte eigentlich lächeln und ihn herzlich willkommen heißen, aber ich bringe kein Wort heraus, so sehr fesselt mich die Schönheit dieses Mannes.
„Julia?“
Er hat meinen Vornamen französisch ausgesprochen. Das Geräusch meines Stiftes, der auf die Empfangstheke fällt, lässt mich plötzlich hochschrecken und ich versuche, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich stand bereits mit halb geöffnetem Mund da und nun runde ich dieses lächerliche Bild noch ab, indem ich rot werde …
„Julia Belmont. Das steht auf Ihrem Namensschild.“
Ist er von meinem idiotischen Auftreten wirklich überrascht oder versucht er nur, mich aus meiner misslichen Lage zu befreien? Ich muss unbedingt etwas sagen. Schließlich stammle ich:
„Entschuldigen Sie, Mister. Mister?“
„Daniel Wietermann. Suite Nummer 607, einschließlich der Nebenzimmer“,
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