Der Zauber eines fruehen Morgens
recht hatte. An dem Tag, als sie Jimmy geheiratet hatte, hatte sie die Tür zu ihrer Zeit in Amerika und Paris fest verschlossen. Etienne mochte sie mit seinem Besuch wieder geöffnet haben, und darüber war sie froh, aber Jimmy würde es vielleicht nicht so sehen.
»Was ist mit Noah?«, fragte sie. »Ihn wirst du doch besuchen, oder? Ihr zwei seid so gute Freunde geworden, als ihr mich gesucht habt, und du erinnerst dich bestimmt noch an Lisette, die sich im Konvent um mich gekümmert hat, bevor du mich nach Amerika gebracht hast. Noah hat sich in sie verliebt, und jetzt sind die beiden verheiratet, und ein Kind ist auch schon unterwegs. Sie wohnen in einem schönen Haus in St. John’s Wood.«
»Ich bin mit Noah in Verbindung geblieben«, sagte Etienne. »Vielleicht nicht ganz so intensiv, wie ich es hätte tun sollen, aber ihm als Journalist fällt das Schreiben nun mal viel leichter als mir. Mittlerweile ist er ein so bekannter Kolumnist, dass ich sogar in Frankreich Artikel von ihm lesen kann. Tatsächlich gehe ich morgen Mittag in der Nähe seines Büros mit ihm essen. Wir werden immer Freunde sein, doch in seinem Zuhause möchte ich ihn lieber nicht besuchen. Wir sind uns beide darin einig, dass Lisette nicht an die Vergangenheit erinnert werden muss, schon gar nicht jetzt, da sie ein Kind erwartet.«
Belle, die genau wusste, was er meinte, lächelte wehmütig. Auch Lisette war als junges Mädchen zur Prostitution gezwungen worden, und genau deshalb hatte sie sich so liebevoll um Belle gekümmert. »Ehrbarkeit hat einen hohen Preis. Ich mag Noah und Lisette sehr, aber obwohl wir Kontakt halten und uns hin und wieder sehen, sind wir immer darauf bedacht, nie zu erwähnen, wie und warum wir uns kennengelernt haben. Ich weiß, dass es für uns in unserer jetzigen Situation als verheiratete Frauen richtig ist, doch es verhindert eine wirklich enge Freundschaft.«
Etienne sah sie eindringlich an. »Wirkt sich die Vergangenheit auf deine Beziehung zu Jimmy aus?«
»Manchmal«, gestand sie. »Es ist, als hätte man einen Holzsplitter im Finger, der nicht herausgeht, an dem man jedoch trotzdem ständig herumfummelt.«
Etienne nickte. Er fand ihren Vergleich sehr passend. »So geht es mir auch. Aber im Lauf der Zeit geht der Splitter doch raus, und die Öffnung, die er hinterlässt, füllt sich mit neuen Erinnerungen.«
Belle lachte auf. »Warum sind wir eigentlich so trübselig? Trotz all der Probleme, die wir hatten, ist es für uns alle, für dich, mich, Jimmy, Mog und auch Lisette, gut ausgegangen. Warum neigen die Menschen dazu, den schlechten Zeiten nachzuhängen?«
»Sind es die schlechten Zeiten, denen wir nachhängen, oder die schönen Augenblicke, die uns in diesen Zeiten weitergeholfen haben?«, gab er zurück und zog fragend eine Augenbraue hoch.
Belle wurde rot, und er wusste, dass auch sie sich noch gut an ihre gemeinsamen Augenblicke erinnerte.
Obwohl sie gegen ihren Willen nach Amerika gebracht wurde, hatte Belle sich rührend um ihn gekümmert, als er während der Überfahrt seekrank geworden war. Lange bevor sie New Orleans erreicht hatten, waren sie einander sehr nahegekommen, und am Abend ihres sechzehnten Geburtstags hatte sie sich ihm angeboten. Er wusste bis heute nicht, wie er es in jener Nacht geschafft hatte, standhaft zu bleiben. Trotz seiner Frau und seiner zwei kleinen Söhne daheim hatte er Belle begehrt. Die Erinnerung an ihren straffen, jungen Körper, der in seinen Armen lag, und an ihre betörenden Küsse hatte ihn im Lauf der Jahre immer wieder heimgesucht. Trotzdem war er froh, dass er ihren Reizen damals nicht erlegen war – er hatte auch ohne das genug Schuld auf sich geladen.
»Immer wenn ich etwas über New York lese, muss ich daran denken, wie du mir all die Sehenswürdigkeiten gezeigt hast«, sagte sie. »Ich muss darauf achten, nie zu erwähnen, dass ich einmal dort war, sonst müsste ich erklären, wann und mit wem das war. Ich habe dich nie gefragt, ob dir die zwei Tage auch so viel Spaß gemacht haben. Hat es dir gefallen?«
»Es war für mich die schönste Zeit seit Langem«, gestand er. »Du warst so überwältigt, so erpicht darauf, alles zu sehen. Mir war sehrunwohl bei dem Gedanken, dich nach New Orleans zu bringen und dort zurückzulassen.«
»Ach, so schlimm war es bei Marta gar nicht!«, meinte sie und legte tröstend eine Hand auf seinen Arm. »Ich habe dir deshalb nie Vorwürfe gemacht. Mir war klar, dass du nicht anders handeln konntest. Außerdem
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